Sechs Empfehlungen und eine Warnung
Matthias Keidtel: Ein Mann wie Holm
Mein Lieblingsbuch in diesem Jahr.
Titelfigur Holm ist eine
Mischung aus unsicherem Kind und erstarrtem Rentner, der sich in der Mitte des
Lebens in jeder Beziehung zurechtfinden muss. Eine Mischung aus Westberliner
Insulaner, Asperger-Autist und Mork vom Ork, der alle Aussagen seiner
Mitmenschen wörtlich nimmt, sich ständig größten Peinlichkeiten ausgesetzt
sieht und der ein klares Weltbild hat – zu dem nur leider die Welt, in der er lebt,
nicht passt. Das ist natürlich anstrengend, weshalb Holm auch immer mal wieder
gerne eine Pause vom Leben hätte. Diese bekommt er aber nicht, da ihn die
Eltern mit zarten 37 Jahren vor die Tür setzen. Die Tante, bei der er einzieht,
stellt ihn vor einige Herausforderungen. Plötzlich muss Holm selbst in den
Supermarkt (problematisch besonders der peinliche Klopapierkauf), anfangen
zu arbeiten (das geringste Problem, da Holm in einem Zigarrenladen eine
übersichtliche Stelle mit wenig Kundenkontakt findet) und, auf Geheiß der
Tante, eine Freundin finden. Diese findet er in Ulrike, eine Art Monika Mustermann, mit Hilfe derer Autor Keidtel alle Absurditäten des
Kennenlernens (Date, Geburtstagsfeier, Discobesuch) und Zusammenlebens (Ausflug
ins Grüne, Sonntagnachmittage mit Familienbesuchen) aus der verschobenen Perspektive
seines Protagonisten durchexerziert. Es spricht dabei sehr für Keidtel, dass er
immer das richtige Maß findet: die Nebenfiguren sind alle so weit Klischee und Holm ist so wenig normal,
dass man es gerade noch glaubt. Die Situationen sind realistisch und
werden nie zu lange oder zu exzessiv ausgeschlachtet. Potentielle
Peinlichkeiten finden meist nur in Holms Kopf statt und werden nicht, wie
etwa in der Fernsehserie „Pastewka“, genüsslich bis ins Letzte ausgeschlachtet.
Überhaupt verkommt das Buch nie zur Nummernrevue, der Roman ist tatsächlich einer, und zwar eine Art Entwicklungsroman, denn
ACHTUNG SPOILER - am Ende rebelliert Holm – zwar ohne dass es wirklich jemand merkt, aber in
seinem Bewusstsein macht er einen gewaltigen Schritt. Versinnbildlicht wird
dieser auf der letzten Seite anhand eines verwirrten Mannes, der, wie einem
Faden folgend eine Straße entlangläuft und jede Laterne und jeden Hydranten mit
Tunnelblick umrundet, bis er vor einer großen, offenen Kreuzung zum Stehen
kommt. An diesem Punkt ist auch Holm am Ende des Buches. Kein Happy End, keine
dramatische Trennung von Ulrike, ein offenes Ende mit Potential für weitere
Romane mit Holm.
„Ein Mann wie Holm“
ist ein Buch, wie ich es liebe. Witzig und doch nicht platt; satirisch und doch
eine echte Geschichte erzählend; ironisch und dennoch nicht unverbindlich. Man
mag Holm, und man versteht ihn letztlich auch, wenn man sich auf seine Logik
und Weltsicht einlässt. Und mehr noch: wer ehrlich zu sich selbst ist, entdeckt
vielleicht in abgeschwächter Form auch die eine oder andere Marotte Holms bei
sich und kann daher auch herzhaft über sich selbst lachen. Oder kräftig
schlucken und versuchen, es in Zukunft anders zu machen.
P.S.: wie treffsicher Keidtel schreibt, kann man daran erkennen, wenn er Nebenfiguren in nur einem Satz so charakterisiert, dass man sie direkt bildlich vor Augen hat. Zu Ulrikes Schwester
Anne schreibt er: "Dunkelhaarig und von einer krummen Nase entstellt, hatte sie die
Selbstdemütigung bereits derart verinnerlicht, dass es nur noch zu einem
schwachen Händedruck reichte“, zu ihrem Mann Sven „ein Hühne mit Pausbacken, man
hatte vergessen, ihm ein seiner Körpergröße angemessenes Gesicht mitzugeben,
schien dagegen mit sich selbst im Reinen".
Almut Klotz / Rev. Christian
Dabeler: Aus dem Leben des Manuel Zorn
Manuel klingt feminin, Zorn aggressiv – so die These der Autoren. Eine
gespaltene Persönlichkeit also, ebenso wie das Buch von zwei Autoren, die aus
der Sicht von zwei Personen eine Geschichte erzählen. Da ist zum einen der
passive und zurückgezogene Langzeitstudent Peter, der durch einen Zufall für
Manuel Zorn gehalten wird und sich fürderhin zunächst einmal für diesen
ausgibt, zum anderen ein unberechenbarer und aggressiver Ich-Erzähler, über den
wir erst sehr allmählich erfahren, dass er Hagen heißt und aus einer reichen
Bürgerfamilie kommt. Letzterer kommt einem durch die Ich-Perspektive unangenehm
nah, der erste bleibt, nicht zuletzt durch die eingeschobene Instanz eines
personalen Erzählers, zum Leser zunächst ebenso auf Distanz wie zum Rest der
Welt.
Man merkt schon: das ist nicht einfach Popkultur zum Wegschlürfen und
sich Wiederfinden. Im Gegenteil: als Setting wurde das ins Groteske verzerrte
Berlin einer nahen Zukunft gewählt, das geschickt vertraute Anknüpfungspunkte
schafft, die aber gerne ins Überzogene oder Bizarre gesteigert werden. Stichworte: mysteriöse Riesenbaustellen, „janz Berlin iss untergullit“,
Trash-Vernissagen. Jetzt noch einen unzuverlässigen Erzähler (Hagen), bei dem
man oft nicht weiß, ob seine Wahrnehmung drogen- und alkoholvernebelt ist oder
eine seiner Psychosen zuschlägt.
Klingt anstrengend? Hm, ist es vielleicht für die ersten zehn Seiten.
Dann aber ist man drin und lässt sich – mal mehr, mal weniger gerne – von der
Geschichte mitnehmen. Denn es gibt eine Geschichte, nicht nur
Alltagsbeobachtungen. Eine recht solide Mystery-Thriller-Geschichte sogar, die
handwerklich funktioniert, in der Auflösung aber (erwartungsgemäß) etwas
enttäuscht. Innerhalb dieses Handlungsgerüsts gibt es dann doch die
Alltagsbeobachtungen der Popkultur, nicht selten fast schon perfide dadurch
gebrochen, dass die wahren Worte von einem Soziopathen gesprochen werden
(etwa zum Thema Schule und Erziehung, wozu es Gedanken gibt, zu denen man nur
zustimmend nicken kann, die dann aber in einer unangenehmen Gewaltphantasie
enden, die man so nun auch nicht wollen kann)
Dass dabei nicht jede Wendung funktioniert, nicht jede gedankliche
Spielerei zündet, schadet nicht, wenn ein Buch so voller Ideen ist.
Deprimierend ist das Ganze natürlich teilweise schon, gleichzeitig aber auch verdammt unterhaltsam, stimulierend
und nachhaltig. Wer seinen eigenen Zynismus also kennt und die nötige Distanz
dazu hat, hat hier ein gewinnbringendes Buch vor sich.
Kai Havaii: Hart wie
Marmelade
Ich bin erstaunt und erfreut. Kai Havaiis autobiographischer
„Rock’n’Roll Roman aus der Provinz“ ist nicht einfach ein weiteres Stückchen
Popliteratur, sondern ein komplett unprätentiöser und daher so für sich
einnehmender Rückblick auf eine Rock’n’Roller-Karriere. Anders als
Stuckrad-Barre, Goosen oder auch Rocko Schamoni nimmt der Extrabreit-Sänger vor
allem dadurch für sich ein, dass er frei von Profilneurosen ist. Bzw. hat er die
natürlich schon, aber er kennt sie und geht reflektiert mit ihnen um. Und so
hat man Spaß mit mehr oder weniger erwartbaren Showgeschäft-Anekdoten, freut
sich über die realisitsche Sicht des eigenen Schaffens einer Band, die zwar
Punk-Wurzeln hat, aber auch zu jeder möglichen Kommerzialisierung ja sagt, und
ist beeindruckt von dem nüchternen Darstellung der Heroinabhängigkeit des Sängers.
Der scheinbar beiläufige Stil und die kurzen, episodenhaften Kapitel stehen der
Bindung des Lesers an den Autor oder eben Romanhelden erstaunlicherweise nicht
im Weg. Man amüsiert sich mit ihm über pubertäre Späßchen und ist emotional ergriffen,
wenn er vom Selbstmord einer seiner Freundinnen berichtet. Vermutlich ist
es die Ehrlichkeit und – schluck – Authentizität, mit der Kai Havaii die Leser
auf seine Seite zieht und die für ihn einnimmt.
Ein großer Genuss und das beste Buch dieser Art seit sehr langer
Zeit.
Valerio
Varesi: Die Pension in der Via Saffi
Ich gebe zu, ich bin kein Freund dieses abgenutzten Genres, mache hier aber eine Ausnahme. "Die
Pension in der Via Saffi" ist bereits der dritte Roman mit Commisario Soneri, den ich lese. Varesi greift
auch hier Motive auf, die in seinen anderen Romanen vorkommen: der nur scheinbar begrabene Konflikt
zwischen Faschisten und Kommunisten in Italien, der Gegensatz von Stadt und Land sowie das
Motiv der sich verändernden Zeiten und Sitten. Anders als in den anderen Romanen ist sein
Kommissar dieses Mal aber nicht nur durch seine Einstellung oder Herkunft involviert, dieses Mal gibt es persönliche Verbindungen zum Mordfall
in der titelgebenden Pension, die den an sich fatalistisch und
existentialistisch gestählten Commissario in seinen Grundfesten erschüttern.
Wenn man andere Romane mit ihm kennt, ist das Buch ein Genuss. Der
sympathische, wenn auch misanthrophe Soneri, den man bereits ins Herz
geschlossen hat, steht stärker im Mittelpunkt, das existentialistische Weltbild
wird vertieft, die düstere Atmosphäre, von der ich mir ja nach dem zweiten Buch
gewünscht hatte, sie würde im dritten Buch strahlendem Sonnenschein weichen,
wird ein weiteres Mal variiert (und zwar gekonnt, denn dieses mal ist mit Parma
eine Gro0ßstadt Schauplatz), und liebgewonnene Nebenfiguren wie Soneris
Freundin Angela und der prosaische Gegenpol Inspektor Juvara spielen auch
wieder eine Rolle. Auch wenn Varesi hier schneller in die Vollen der
Ermittlungsarbeit geht und das Buch vielleicht an manchen Stellen mit seiner
Vielzahl an Namen und Nebenschauplätzen etwas überkonstruiert wirkt, bleibt man
dennoch mit Spannung dabei. Das liegt an den fabelhaften Dialogen, die Varesi
schreiben kann, am begrenzten Schauplatz (ein Stadtviertel in Parma), dem er
überzeugend Leben einhaucht, und an der gelungenen Mischung von Krimihandlung
und existentialistischer Lebensbetrachtung. Die nur schwer auszuhaltende Welt
und Weltsicht wird dabei durch ironische Kommentare, anrührende zwischenmaenschliche Begegnungen sowie dem noch
stärker als im letzten Roman entwickelten Motiv der Wichtigkeit des guten
Essens angenehm konterkariert. Ein sehr schönes Buch, das man mit Gewinn liest;
ein Krimi, wie man ihm nach meinem Geschmack nicht besser schreiben kann.
Benjamin Maack: Die Welt ist ein Parkplatz und endet vor Disneyland
Ex-"Ohrensessel"-Podcaster Benjamin Maack arbeitet ja jetzt Vollzeit für den „Spiegel“ und schreibt Literatur. Das vorliegende Bändchen enthält 11 Erzählungen aus dem Jahr 2007, da war Maack noch keine 30 – und das merkt man den Geschichten auch an.
Seine Protagonisten
sind Kinder, Teenager, Mittzwanziger; seine Settings die bürgerliche
Vorstadtmittelklasse. Und natürlich geht es um deren Abgründe. Tod, Krankheit,
Messietum, Perversion und Depression, die in der Normalität allerorten lauern.
Klingt aber zum Glück schlimmer als es ist, denn Maack lässt den didaktischen
Zeigefinger unten und beschreibt einfach. Das Scheidungskind mit dem
Messievater, das diesen Vater als gar nicht so unnormal ansieht; den Jungen mit
den perfekten Eltern, der so gerne etwas für sich selbst hätte und bei einer
Rast auf der Fahrt in den Urlaub einen toten alten Mann entdeckt, der sein
Geheimnis bleibt; den Jungen, der sein Leben entrümpeln will und daher nicht
mehr aus seinem Zimmer kommt. Dabei trifft er den richtigen Tonfall zwischen
lakonisch und ernsthaft, schreibt unprätentiös und auf den Punkt, literarisch
und doch leicht.
Drei Geschichten
finde ich herausragend: die erwähnte „Ich führe nämlich ein Doppelleben“ mit
dem toten alten Mann. Dann „Manuel“, in dem Maack aus der Sicht eines
homophoben Riesenbabies dessen Begegnung mit einem jugendlichen,
großbürgerlichen Feingeist (= Schwuchtel) beschreibt, die Geschichte mit dem
auf angenehme Art seltsamsten Ende, wenn - ACHTUNG SPOILER - der schöne Manuel dem Riesenbaby
unbedingt ein Gemälde zeigen will und der Prolo dieses nur durch Ergreifen (=
Anpatschen) im Ansatz zu begreifen erscheint. Und schließlich „Es muss so
einfach sein, Stephen Hawking zu töten“, eine politisch kaum korrekte
Initiationsgeschichte über einen Jugendlichen, der meint einen ihm anvertrauten
Säugling getötet zu haben. Gerade in dieser Geschichte gewinnen zwei Figuren
deutlichere Konturen, mit denen Maack
beweist, dass er auch das Zeug zum Roman hat.
Da soll er mal
loslegen, denn ich bin und bleibe der Gattung der Erzählung gegenüber
zurückhaltend. Acht bis 15 Seiten bieten einfach nicht viel Raum, außer man will à la
Roald Dahl nur auf eine Pointe hinaus. Aber andererseits sehe ich auch schon ein,
dass die Erzählung als Fingerübung für ernsthafte Autoren notwendig ist, und
jeder Gang in den örtlichen Thalia zeigt ja auf den ersten Blick, dass es viel
zu viele Autoren gibt, die es nicht mehr unter 400 Seiten machen.
Nein, gut Ding soll
Weile haben. Insofern eine schöne erste Begegnung mit dem Autor Benjamin Maack,
bei der ich mir nur gewünscht hätte, ein etwas größeres thematisches Spektrum
vorzufinden. Wenn die elf Geschichten die Visitenkarte des Autors sein sollen,
geht es ein wenig zu sehr um spätpubertäre Nöte, Schuldgefühle und Tod.
Wenn dies als thematische Klammer Absicht gewesen sein sollte, nehme ich alles zurück.
Jörg Fündling: Marc Aurel
Mein Sachbuch des Jahres.
Nach dem großen
Genuss der Lektüre seines Bandes zu Sulla am Strand von La Grande Motte ist die
Neuauflage des historischen Lektüregenusses unter südlicher Sonne am Pool mit
Meerblick im spanischen Teulada voll gelungen. Einmal mehr gelingt es Jörg Fündling eine
historische Persönlichkeit von allen Seiten her zu beleuchten, einmal mehr
genügt das Buch allen wissenschaftlichen Ansprüchen und ist dabei doch
inhaltlich spannend und sprachlich ansprechend. Fündling gelingt es scheinbar
mühelos, die richtigen Worte zu finden. Er schreibt prägnant und auf den Punkt
und schafft es mittels Wort- oder Zitatewahl auch immer mal wieder ein
ironisches Augenzwinkern oder sogar einen satirischen Seitenhieb zu landen. Bei
allem Bemühen um Ausgewogenheit und Objektivität (soweit diese möglich ist),
ist dennoch eine Haltung zur Person Marc Aurel erkennbar. Dessen
Körperfeindlichkeit und schädlichem Perfektionismus zum Beispiel steht der Autor
skeptisch gegenüber. Dieses Ergreifen einer Position, ohne für deren Vertreten
die Sachlichkeit und den Facettenreichtum der Darstellung aufzugeben, nimmt
mich besonders für das Buch ein. Denn es sind diese Momente, in denen das
Engagement des Autors besonders durchschimmert und die dem Skelett der Fakten
Fleisch verleihen. Wie schon bei Sulla arbeitet sich der Autor engagiert an
einer widersprüchlichen Persönlichkeit ab, zu der er einen wie auch immer
gearteten Bezug zu haben scheint. Und dieses Engagement springt auf den Leser
über. Ich weiß bei so einer Lektüre wieder, warum ich einmal dieses Fach
studieren wollte (was man vor lauter Kompetenzorientierung und Basisnarrativen
schon mal aus dem Blick verlieren kann). Bekanntes wurde mit dieser Lektüre
reaktiviert, vorhandenes Wissen vertieft, Lücken geschlossen und Zusammenhänge
klarer erkennbar. Auch die Bezüge zu aktuellen Phänomenen, wie die These, dass
Marc Aurel unter Essstörungen litt, was plausibel nachgewiesen wird,
überzeugen.
Ein kleiner Abzug
für ein paar Passagen, die für mich über das Ziel hinausschießen. Hier wird
etwas wild assoziiert, etwas zuviel vorausgesetzt und zu sehr für den eigenen
Elfenbeinklüngel geschrieben, was in einem Buch aus einer WBG-Reihe, die sich
an sich an ein breiteres Publikum richtet, etwas unpassend erscheint.
Die Warnung:
Tom Rob Smith: Kolyma
Dass man von Tom Rob Smith keine subtile Auseinandersetzung mit
Stalinismus, KGB und Gulagsystem erwarten darf, wurde schon in „Child 44“ klar.
Dennoch funktionierte dieses Buch als temporeicher, düsterer Thriller mit Polithintergrund.
Überzeichnet und reißerisch, aber auch verdammt unterhaltsam. Dazu kam der
Kunstgriff des Antihelden, der ein – zunächst auch überzeugter – KGB-Agent ist,
mit dem der Leser aber dennoch mitfiebert.
Im Nachfolgebuch „Kolyma“ gibt es so manches Problem. Dass
Protagonist Leo eigentlich ein Guter ist, wissen wir ja inzwischen, also muss
neues Ungemach über ihn von außen hereinbrechen, namentlich durch seine
pubertierende Adoptivtochter und eine rachelüsterne Dame aus seiner
Vergangenheit. Eine Grundkonstellation, in der sich Charaktere nicht entwickeln
können, und dass das Teenie-Mädel am Ende zu ihrem Daddy zurückfinden wird, ist
selbst in der düsteren Welt des Tom Rob Smith von Anfang an relativ klar.
Auch in seiner Kernkompetenz des Spannungsromans tut sich Smith
dieses Mal schwer. Zwar sorgt am Anfang des Buches die berühmte Parteitagsrede
Chruschtschows, in der dieser die Auswüchse des Stalinismus anprangert, für
Spannung, da dieses Eingeständnis von Fehlern die bis dahin zum Schweigen gebrachte
Opposition mobilisiert und die herrschende Elite in Gefahr bringt. Zugespitzt
bei Smith in Lebensgefahr, da eine auf Rache sinnende Bande beginnt,
stalintreue Führungskader zu ermorden. Doch nach dem originellen Einstieg gehen
dem Autor recht bald die Ideen aus. Die renitente Adoptivtochter unseres Helden
Leo wird gekidnappt, und, um sie wiedersehen zu können, soll er aus einem
sibirischen Gulag einen von ihm selbst dorthin beförderten politischen
Gefangenen befreien. Oh ja. Man sieht den Zaunpfahl in Richtung Hollywood
winken. „Für das Leben seiner Tochter muss er alles riskieren. Undercover im
härtesten Arbeitslager der Welt.“ Etc, etc. Und so geht man mit Leo auf die
actionreiche, aber überraschungsarme Reise nach Sibirien. Wobei die Action auch
wirklich nicht gut ist. Im typischen Bestreben eines zweiten Teils, die
Superlative des ersten noch zu toppen, gerät unser Held in etwa ein Dutzend
ausweglose Situationen und überlebt Attacken und Verwundungen, die niemand
überleben kann. Leider ist das selten spannend und temporeich, sondern häufig
hektisch und vorhersehbar erzählt. Zu verraten, dass Leo dem Gulag entrinnt,
ist sicherlich kein Spoiler, und Tom Rob Smith hätte gut daran getan, seinen
Roman dann einfach enden zu lassen. Stattdessen schließt er einen dritten Teil
an, der den Ungarnraufstand 1956 behandelt und dem Buch den Todesstoß gibt. Denn
hier greifen die handelnden Figuren in historische Abläufe ein, und das Buch
verliert damit seinen letzten Rest an Glaubwürdigkeit. Es mag ja noch angehen,
alle möglichen grausamen Gulaggeschichten zu bündeln und diese als historischen
Hintergrund für ein Ausbruchsdrama zu verwenden (man mag das geschmacklos finden
und Exploitation nennen, aber als Story funktioniert so etwas häufig gut),
aber Reißbrettcharaktere als Strippenzieher hinter dem Ungarnaufstand zu
verkaufen, ist ein Schlag ins Gesicht für alle an diesem Aufstand Beteiligten.
Mich würde mal interessieren, wie sich dieser Roman in Ungarn verkauft hat. Als
Ungar wäre ich jedenfalls not amused.
Nein, Teil drei der Trilogie werde ich mir schenken. Und was den
Autoren-Shooting-Star betrifft, bin ich gespannt, ob da noch etwas nachkommt.
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