Montag, 30. Dezember 2013

Das Kinojahr 2013


"Drive II" ist der Film des Jahres. Ach nee. Den gibt es ja gar nicht. Und das, obwohl der Film von so vielen Kinofreunden herbeigesehnt wurde. Only God Forgives verstörte die meisten und nur eine cineastische Avantgarde (Bernd Begemann und Kay Otto) fand den Film uneingeschränkt gut. Ich konnte mich bislang nicht durchringen, ihn zu sehen. The Place Beyond The Pines weckte im Trailer Hoffnungen, enttäuschte aber als schwerfälliges und langatmiges Cop-Gangster-Drama mit gewolltem Tiefgang. Da konnte auch Ryan Goslings Dackelblick nichts retten.

Nein, es fällt nicht leicht, den einen Film des Jahres 2013 im Sinne eines herausragenden, bleibenden, zukünftigen Klassikers vom Schlage "Drive" zu finden. Doch statt eines Paukenschlages gab es im Jahr 2013 viele kleine, nachhaltige Filme, die mir jetzt zwischen den Jahren wieder ins Gedächtnis kommen. 

Da ist zuallererst No! zu nennen, ein Film über die Werbekampagne gegen den chilenischen Staatschef Pinochet in den 1980er-Jahren und einer der seltenen Fälle, in denen ein Film mit einem politischen Thema auch optisch ein wahres Fest ist. "No!“ ist spannend als Film über jüngere chilenische Geschichte und zugleich über die Mechanismen von Werbung und politischer Propaganda. Formal ist er interessant, weil er die Videoästhetik der 1980er-Jahre konsequent als ästhetisches Mittel nutzt. Euphorisiert empfahl ich den Film nach dem Kinobesuch allen politisch Interessierten und Fans des 80er-Jahre-Langnese-Werbespots "Like Ice in the Sunshine“. Ich tue das immer noch und meine es ganz ernst.



Ein optisches Fest und eine unbedingte Empfehlung ist für mich auch Blancanieves. Ein Stummfilm in Schwarz-Weiß? War da in den letzten Jahren nicht schon mal so ein Film? Sicher, aber "Blancanieves“ ist kein zweiter "The Artist“. Der Film erzählt das bekannte Schneewittchen-Märchen vor dem Hintergrund von Stierkampf-und Flamenco-Kultur. Er ist letztlich eine Liebeserklärung an diese Kultur und an Spanien überhaupt. Bilder wie gemalt und Musik, die stets mehr ist als ein Soundtrack, eine Ausstattung mit Liebe zum Detail und exzellent besetzte Darsteller, ach, es stimmt einfach alles hier. Anders als mit "Beasts oft he Southern Wild“ im vergangenen Jahr bewies das Fantasy Filmfest Publikum hier Geschmack und würdigte den wirklich besten Film mit dem Fresh Blood Award. Und einen deutschen Kinostart soll es angeblich auch noch mal irgendwann geben.


Der dritte Film im Bunde, für den ich nur die Höchstnote zücken kann, ist Brian de Palmas Alterswerk Passion. Nein, kein Scherz. Über kaum einen Film las ich dieses Jahr so viel Schlechtes. Von mir aus. Ich mag De Palma, und zwar vor allem, wenn er auf glaubwürdige Charaktere und logische Handlungsentwicklung pfeift und seine Fetische auslebt: Sleaze-Ästhetik, fragwürdige Frauenbilder, stilisierte Szenen, die längst nicht mehr Hitchcock nacheifern, sondern früheren De-Palma-Filmen. War das französische Original der elegante Machtkampf zweier Karrierefrauen, nicht ohne Sozialkritik und mit gediegener Thrillerhandlung, ist De Palmas Version so überzogen und trashig, dass der Film jeglichen Anspruch auf Realismus zunehmend vernachlässigt und zu reinem Kino wird. Ob man diese Art von Kino mag, muss jeder selbst entscheiden, aber De Palma war sich selbst schon lange nicht mehr so nah wie in "Passion“


Ansonsten waren es erstaunlicherweise eher Dokumentationen, die mich in diesem Jahr am meisten beeindruckten. Vergiss mein nicht ist das berührende Porträt einer demenzkranken Frau, die zugleich die Mutter des Regisseurs ist, was dem Film eine Nähe und Emotionalität gibt, der man sich als Zuschauer nicht entziehen kann. Alphabet sagt letztlich alles zum Thema Erziehung und Bildung im frühen 21. Jahrhundert und prangert engagiert Standardisierungs- und Leistungswahn an:   "Die Verkürzung des Lebens auf die Ökonomie ist eine der schlimmsten Entwicklungen unserer heutigen Zeit". Das sagt in dem Film ein Ex-Personalchef der Telekom. Winternomaden schließlich zeigt, dass nicht nur große gesellschaftliche Themen Stoff für Dokumentarfilme liefern. Der Film zeigt die Winterwanderung zweier Schäfer mit ihrer Herde. Punkt. Und irgendwie doch nicht, denn ganz nebenbei findet man sich als Zuschauer hier immer mal wieder mit dem eigenen Lebensentwurf konfrontiert. 



Natürlich gab es auch im Mainstream-Kino so manche Perle. Argo wurde sicherlich nicht zu Unrecht mit einem Oscar bedacht: erfreulich sorgfältig ausgestattet und spannend inszeniert – gegen den Regisseur Ben Affleck kann man wirklich nichts haben, und selbst der Schauspieler Ben Affleck ließ sich hier ertragen. Life of Pi fand ich als Film wesentlich unaufdringlicher und spannender als als Roman und Ich – einfach unverbesserlich 2 war trotz manch vorhersehbarer Handlungselemente ein großer Spaß und bleibt dank Minions und Open-Air-Kinoerlebnis in der Mini-Stierkampfarena des südfranzösischen Les Saintes Maries de la Mer sicherlich dauerhaft im Gedächtnis.


Gelacht werden durfte auch bei The World’s End und Immer Ärger mit 40, wobei beiden Filmen ein wenig Tiefgang und menschliche Abgründe zugutekamen, die diese Komödien nicht zur reinen, auf die Dauer ermüdenden Ablachveranstaltung machten. Gleiches gilt für den belgischen Film Der Tag wird kommen, in dem der unverwüstliche Spätpunk Benoit Poelverde seinem scheiternden Spießerbruder (dargestellt vom unverwüstlichen Albert Dupontel) verdeutlicht, wie man einer Gewerbegebietshölle aus Supermärkten und Systemgastronomie den Stinkefinger zeigt. Alles andere als herzerwärmend, aber erfrischend böse und erfreulich subversiv.


Auch nicht gerade lebensbejahend geht es in The Broken Circle zu, auch ein belgischer Film, der von einem Musikerpärchen handelt, das den Verlust seiner Tochter verarbeiten muss. Harter Tobak, aber eine klare Empfehlung für Leute, die den Schlag in die Magengrube nicht scheuen und Filme mit emotionaler Wucht schätzen. Ähnliches gilt für Die Jagd, in dem sich ein Kindergärtner der Anschuldigung des sexuellen Missbrauchs ausgesetzt sieht.  Hier findet sich auch eine der herausragendsten  darstellerischen Leistungen des Jahres: ohne Mads Mikkelsen hätte ich diesen Film in der Konstruiertheit seiner Handlung vermutlich nicht so gut gefunden. Ebenfalls herausragend sind Joaquin Phoenix und Philip Seymour Hoffman in Paul Thomas Andersons sperrigem The Master. Als Film über Scientology und Sektengründe L. Ron Hubbard schwer zugänglich, funktioniert der Film vor allem in der Darstellung von Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Menschen hervorragend.   


Wer mehr etwas für’s Herz sucht, dem empfehle ich Englisch für Anfänger oder, wie der viel lautmalerischere Originaltiel lautet, "English Vinglish“. Jawoll, ein Bollywood-Film. Und noch dazu die Selbstfindungsgeschichte einer mausigen Ehefrau, die ohne Englischkenntnisse nach New York geschickt wird, um dort bei den Hochzeitsvorbereitungen ihrer… äh… Nichte?...na ja, kann man ja googeln… zu helfen und dann in einem Englischkurs neue Freunde und sich selbst findet. Was wie ein Fernsehfilmplot aus der SAT1-Hölle klingt, ist so unfassbar sympathisch, witzig und unterhaltsam, dass man sich dem Charme des Films kaum entziehen kann.  Ähnliches gilt für Unter dem Regenbogen, den neuen Film von Agnès Jauoi, die mit "Lust auf Anderes“ einen meiner, na sagen wir mal, TOP 50-Filme ever gedreht hat. Worum geht’s? Ach, irgendwie um Selbstfindung, Klarkommen mit Enttäuschung und Verlust, den Versuch in einem gewissen Alter doch noch mal an einem eingefahrenen Leben etwas zu ändern. Das Übliche eben. Die große Kunst Jauois und ihres Co-Autors Jean-Pierre Bacri, der in dem Film einmal mehr sehr amüsant den wortkargen Misanthrop mittleren Alters gibt, besteht darin, dass diese Themen da sind, aber nie mit großer Geste im Vordergrund stehen. Stattdessen hat man das Gefühl, Alltag zu beobachtden, schließt viele der Charaktere, wie bei einer guten Serie, sofort ins Herz und ist traurig, dass der Film nach knapp zwei Stunden schon vorbei ist. Locker, fließend, charmant und mit Humor – so lasse ich mir Arthouse-Filme gern gefallen. Und diese Attribute gelten überraschenderwiese auch für den deutschen Film Eltern, ein Film, der eine Wohltat ist zwischen all den kalkulierten und mit Schmierseife angereicherten Schenkelklopfern der Schweigers und Schweighöfers einerseits und den furztrockenen Betroffenheitsfernsehspielen à la "krebskranke, alleinerziehende Mutter trifft stasitraumatisierten, arbeitslosen Frührentner, dessen Sohn unter dem Asperger-Syndrom leidet" andereseits. Witzig, warmherzig und doch nichts beschönigend, wunderbar gespielt von Christiane Paul und Charly Hübner als Eltern und mit zwei niemals nervenden Kinderdarstellerinnen – eine Wohltat eben.


Natürlich gab es auch sonst in diesem Jahr deutsche Filme, die ich gut fand und die mir im Gedächtnis blieben. Grenzgänger etwa, eine Dreiecksgeschichte mit einer Frau und zwei Männer vor dem Hintergrund des zerfallenden Ostblocks, ein unaufdringliches und intensives Kammerspiel über Zwischenmenschliches, und oh... ich lese gerade, es ist ein österrichischer Film. Dann aber Paradies: Hoffnung, der dritte Teil von Ulrich Seidls Paradies-Trilogie und einer der besten Kinoabende des Jahres, da der Regisseur im Kino des Filmmuseums Frankfurt anwesend war und sich im Anschluss den Fragen und der Kritik der Zuschauer stellte (dazu an anderer Stelle mehr), und, na gut, auch Seidl ist Österreicher. Aber schließlich Ursula Meiers Winterdieb, in dem ein Junge aus schwierigen Verhältnissen in einem Schweizer Wintersportort reiche Touristen beklaut und sich zugleich eine neue Identität fabuliert, für mich der beste Film des Jahres zum Thema Heranwachsen. Und, man ahnt es schon, ein Schweizer Film.
Dafür kam aus Deutschland der unsägliche Ludwig II., über den ich mich aber ausschweige, da dessen Regisseur Peter Schamoni inzwischen verstorben ist und man über Tote nichts Schlechtes sagen sollte.



Bleibt der Blick auf meine fünfte Jahreszeit, auf das Fantasy Filmfest. Bereits die Nights im März warteten mit drei echten Höhepunkten auf. Chan-wook Parks Hollywood-Debüt Stoker erschloss sich mir in seiner vollen Schönheit erst beim zweiten Sehen, denn hier konnte ich mich voll auf die Optik einlassen und die eher dünne Geschichte vergessen. Freunde der stilisierten Bilder kommen hier voll auf ihre Kosten. Sehr amüsiert hat mich John Dies at the End, bei dem ich den Vorteil hatte, nicht die Buchvorlage zu kennen, so dass mir Wahnsinnsgrad und Ideenreichtum dieser Verfilmung reichten. So richtig ins Herz geschlossen habe ich aber The Bay. Oscar-Preisträger Barry Levinson ("Rainman"!) hat hier einen schön fiesen Öko-Horror-Film gedreht, in dem sich Satire, Spannung und eben Horror die Waage halten. Für mich hat auch das Found-Footage-Konzept gut funktioniert, bei dem echte Experten und Logikfreaks schon wieder laut aufheulten. Ach, dann spielt doch ´ne Runde Schach oder schaut euch alte Knoff-Hoff-Shows an, ihr Spielverderber.


Auch das Sommerfestival war recht reich an Höhepunkten. Neben dem bereits bejubelten "Blancanieves" gab es mit The Body einen weiteren sehr starken spanischen Film, ein Mystery-Krimi zum Miträstseln, dem es sogar fast gelingt, die hohen Erwartungen in seiner Auflösung nicht zu enttäuschen (ja, ich habe wirklich erst sehr kurz vor der Auflösung begriffen, was genau hier passiert). Ein echter Höhepunkt war auch Mr Oizos neue Regierarbeit Wrong. Klang "Rubber" schon konzeptionell anstrengend, geht es in Wrong einfach nur um einen Mann, der seinen Hund sucht. Natürlich in einer nicht so ganz normalen oder eben "richtigen“ Welt, sondern in einer, in der es auch schon mal im Büro regnet (außer in dem der Chefin) oder ein Nachbar mit seinem alten Saab ins Nichts fährt. Die große Kunst dabei ist, dass der Wahnsinn nie überdehnt wird, sondern sich "right and wrong" immer soweit die Waage halten, dass man sich als Zuschauer von vorne bis hinten amüsiert und den Film nie von verrückt nach doof kippen sieht.


Ansonsten gab es auf dem Filmfest wieder feine Genrekost, die trotz bisweilen opulenter Produktion, wohl eher nicht den Weg in unsere Kinos finden wird. Vincento Natalis Haunter zum Beispiel, ein in den 1980ern angesiedelter Haunted-House-Horror-Film mit Twist, sehr schön und sorgfältig gemacht und erst gegen Ende hin erwartungsgemäß etwas überzogen, oder der nicht minder elegante Vampirfilm Byzantium von Altmeister Neil Jordan, der so manchem Connaisseur als redundant auf den Sack ging, mich schlichtes Gemüt aber fabelhaft unterhielt. Auch der existentialistische Spätwestern Sweetwater mit einer Glanzleistung des alten Haudegens Ed Harris wusste mir optisch und inhaltlich zu gefallen (ich sage nur: das Messer im Mahagoni-Tisch).
Von den schmutzigen, kleinen Filmen möchte ich besonders The Human Race erwähnen, ein typischer Film aus dem FFF-Nachmittagsprogramm mit fragwürdigen Darstellern, aber einer spannenden Geschichte, in der sich eine Gruppe Leute plötzlich in einem Wettrennen auf einem abgesteckten Parcours befindet, das nur einer überleben kann. Wer zu langsam ist oder auf’s Gras tritt, fliegt sprichwörtlich in die Luft. Wunderbar düster, fies und nihilistisch. Und um mein Image und das des Festivals aufzupolieren erwähne ich gleich hinterher die "Lord of the Flies"-Variation I Declare War, ein nur mit Kindern besetzter Film, in dem es um spielende Kinder geht und der auch Erwachsenen so einiges zum Thema Wettbewerb und Gruppenzwang erzählt. So pädagogisch wertvoll, dass sich fast der Einsatz im Unterricht empfiehlt. Auch wenn der Trailer erst mal nicht so aussieht.


Die besten Asiaten waren für mich New World und Drug War von den Regieschwergewichten Hoon-jung Park ("I Saw the Devil") und Johnnie To. Bei beiden Filmen gefielen mir überraschenderweise vor allem die geschliffenen Dialoge. Optik und, vor allem bei Johnnie To, Shootouts gab es praktisch obendrauf. Und, nein, ich sehe "Drug War" nicht als systemkonformen Propagandafilm, bloß weil chinesische Polizisten sympathisch dargestellt werden und die ein oder andere Ermittlungsmethode nicht ganz so sauber ist, wie, sagen wir mal, in den USA zum Beispiel. Ein Gangsterfilm ganz anderer Art war der dänische Northwest, der in seiner Darstellung eines vorstädtischen Kleinkriminellenmileus das Rad sicherlich nicht neu erfindet, aber eine mitreißende und ausweglose Geschichte erzählt und glaubwürdig darstellt, wie schnell man aus prekären Verhältnissen auf die schiefe Bahn geraten kann.    
Und schließlich bietet das Filmfest ja immer wieder diese Arthouse-Genrefilm-Hybride, die ich so liebe. Von diesen möchte ich an dieser Stelle den mutigen Dark Touch erwähnen, der wie ein Gruselfilm mit bösem Kind daherkommt, in Wahrheit aber ein Film über sexuellen Missbrauch ist. Harte Kost, sicherlich nicht völlig überzeugend, aber mit außergewöhnlichen Bildern und Symbolen und aus der Masse der Filme insofern herausragend, als dass ich mich an ihn auch jetzt noch sehr lebhaft an ihn erinnern kann.


Warum fehlen eigentlich Filme wie Gravity oder Rush in diesem Rückblick? Na ja, ich habe sie nicht gesehen, da ein "Lebensereignis“ (Facebook-Jargon) dazwischen kam

Gesehen habe ich aber The Great Gatsby, der leider zeigt, dass Baz Luhrman ein Meister der Optik ist, den Roman aber allenfalls sehr oberflächlich verstanden hat. Tolle Partyszenen, da möchte man doch mitmachen und vom Tellerwäscher zum Millionär werden. Long live the American Dream. War es das nicht, was F. Scott Fitzgerald sagen wollte?
Noch so ein an sich bewährter Regisseur, der in diesem Jahr gewaltig daneben langte, ist Ridley Scout. The Counsellor wird mit wachsender Distanz eigentlich immer ärgerlicher. Ein langatmiger Gangsterfilm-Neo-Noir-Quatsch, mit dem ausgerechnet der bislang untadelige Cormac McCarthy zeigt, dass ihm offenbar nichts mehr einfällt. Oder dass er selbst keine Drehbücher, sondern nur deren Vorlagen schreiben sollte. Inhaltsleere Dialoge mit aufgezwungenem Kultfaktor, aufgesagt von einer albern tätowierten Cameron Diaz und einem albern frisierten Jarvier Bardem. Michael Fassbender agiert stoisch bis zur Unkenntlichkeit und Brad Pitt spielt seine Rolle aus "Killing Them Softly“ auf Autopilot noch ein wenig weiter. Wenn dann mal Handlung stattfindet, ist sie beliebig und voller Logiklöcher. Beispiel: wie bringe ich einen motorradfahrenden Drogenkurier am besten um die Ecke? Na klar, ich spanne in Kopfhöhe einen Draht über den Highway, den der Mann mit 200 Sachen langgedüst kommt. Dafür kann ich mir auch schön Zeit lassen, denn dieser Highway wird nur von diesem einem Motorrad und nur einmal am Tag befahren. Aua, aua, aua. Nein, was hier originell und stylish sein soll, ist einfach nur doof; eine Riesenverschwendung von Talenten.

Schlimmer waren eigentlich nur noch die Filme, in denen renommierte Darsteller zeigten, wie sehr sie ihren Zenit überschritten haben. Hier die TOP4 der diesjährigen Fremdschämdarstellungen.
Platz vier: Isabelle Huppert in Die Nonne. Taucht in dem Film nach gefühlten anderthalb Stunden gepflegter Bildungsbürgerlangweile auf und spielt eine lüsterne Mutter Oberin, die es auf die arme, unschuldige Protagonisten abgesehen hat. Wer denkt, dass das ja gar nicht soo schlecht klingt, den erinnere ich daran, dass die 1970er-Jahre vorbei sind und Jess Franco tot ist.
Platz drei: Gérard Dépardieu in Miserère / Choral des Todes. Ein holpriger Thriller mit abstruser Story (Chorknaben als Mordwaffe – ach, ach, ach), den Dépardieu mit seiner sonambulen Präsenz nicht bereichert. Gut für seinen Gegenpart, so ein Rapperbürschchen, der das Schauspielern nicht gerade erfunden hat. Und wenn Dépardieu in einer Szene die Obelix-Plauze vom Nachtlager wuchtet, dann sieht man nicht mehr den charismatischen Lebemann, sondern nur noch einen alten, fetten Typ, der bald nicht mehr kann. Traurig.
Platz zwei: Harvey Keitel in The Congress. Ein eitler Film eines eitlen Regisseurs, der wohl meinte, er könne das wiederholen, was Wayne Wang und Paul Auster in "Smoke" schafften: Keitel einfach mal erzählen lassen und eine Kamera draufhalten. Nur während man in "Smoke" gebannt zuhört und Keitels minimale Mimik einen völlig in den Bann schlägt, sieht man hier nur einen sichtlich gealterten Mann, der irgendwas von der Veränderung der Medienwelt erzählt und bei dem man sich ähnlich wie beim Opa auf der Familienfeier konzentrieren muss, zu verstehen, was er denn eigentlich sagen will.
Platz eins: John Malkovich in Siberian Education. Malkovich, Malkovich. "Being John Malkovich". Ach, das waren noch Zeiten, als der Mann so eine Ikone war, dass er sich in Spike Jonzes Film selbst spielen durfte und dies genüßlich selbstironsich zelebrierte. In diesem schwerfälligen Racheepos gibt er den weisen Klanintellektuellen einer Gruppe sibirischer Outlaws. Und labert und labert und labert immer wieder den gleichen Käse von Ehre, Anstand, Gut und Böse, Richtig und Falsch, Ernie und Bert. Völlig ironiefrei und mit einem pseudorussischen Akzent, der in so mancher Stereotypen-Komödie nicht durchgegangen wäre. Hat man mit Dépardieu und Keitel noch Mitleid, ist das einfach nur ärgerlich und daher Platz eins dieser Negativcharts.   

Soll es so enden, das Kinojahr 2013?
Auf keinen Fall. Ich ende vielmehr mit einer DVD-Empfehlung, die zeigt, dass schon abgeschriebene Schauspieler manchmal den Phoenix aus der Asche geben können. Martin Sheen beeindruckt in Dein Weg als trauernder Vater auf dem Jakobsweg in einem Film, der über zwei Stunden trotz seiner Thematik (Verlust, Tod, Trauer, Selbstfindung) konsequent der Kitsch- und Schmalzfalle entgeht und stattdessen einfach nur ein herzerwärmendes und an den richtigen Stellen augenzwinkerndes Plädoyer für Authentizität und Mitmenschlichkeit ist. Schön und versöhnlich, und so kann auch dieses Jahr enden.


Freitag, 27. Dezember 2013

Bücher 2013

Sechs Empfehlungen und eine Warnung 

 

Lesen unter optimalen Bedingungen


Die Empfehlungen

Matthias Keidtel: Ein Mann wie Holm

Mein Lieblingsbuch in diesem Jahr. 

Titelfigur Holm ist eine Mischung aus unsicherem Kind und erstarrtem Rentner, der sich in der Mitte des Lebens in jeder Beziehung zurechtfinden muss. Eine Mischung aus Westberliner Insulaner, Asperger-Autist und Mork vom Ork, der alle Aussagen seiner Mitmenschen wörtlich nimmt, sich ständig größten Peinlichkeiten ausgesetzt sieht und der ein klares Weltbild hat – zu dem nur leider die Welt, in der er lebt, nicht passt. Das ist natürlich anstrengend, weshalb Holm auch immer mal wieder gerne eine Pause vom Leben hätte. Diese bekommt er aber nicht, da ihn die Eltern mit zarten 37 Jahren vor die Tür setzen. Die Tante, bei der er einzieht, stellt ihn vor einige Herausforderungen. Plötzlich muss Holm selbst in den Supermarkt (problematisch besonders der peinliche Klopapierkauf), anfangen zu arbeiten (das geringste Problem, da Holm in einem Zigarrenladen eine übersichtliche Stelle mit wenig Kundenkontakt findet) und, auf Geheiß der Tante, eine Freundin finden. Diese findet er in Ulrike, eine Art Monika Mustermann, mit Hilfe derer Autor Keidtel alle Absurditäten des Kennenlernens (Date, Geburtstagsfeier, Discobesuch) und Zusammenlebens (Ausflug ins Grüne, Sonntagnachmittage mit Familienbesuchen) aus der verschobenen Perspektive seines Protagonisten durchexerziert. Es spricht dabei sehr für Keidtel, dass er immer das richtige Maß findet: die Nebenfiguren sind alle so weit Klischee und Holm ist so wenig normal,
dass man es gerade noch glaubt. Die Situationen sind realistisch und werden nie zu lange oder zu exzessiv ausgeschlachtet. Potentielle Peinlichkeiten finden meist nur in Holms Kopf statt und werden nicht, wie etwa in der Fernsehserie „Pastewka“, genüsslich bis ins Letzte ausgeschlachtet. Überhaupt verkommt das Buch nie zur Nummernrevue, der Roman ist tatsächlich einer, und zwar eine Art Entwicklungsroman, denn ACHTUNG SPOILER - am Ende rebelliert Holm – zwar ohne dass es wirklich jemand merkt, aber in seinem Bewusstsein macht er einen gewaltigen Schritt. Versinnbildlicht wird dieser auf der letzten Seite anhand eines verwirrten Mannes, der, wie einem Faden folgend eine Straße entlangläuft und jede Laterne und jeden Hydranten mit Tunnelblick umrundet, bis er vor einer großen, offenen Kreuzung zum Stehen kommt. An diesem Punkt ist auch Holm am Ende des Buches. Kein Happy End, keine dramatische Trennung von Ulrike, ein offenes Ende mit Potential für weitere Romane mit Holm.
„Ein Mann wie Holm“ ist ein Buch, wie ich es liebe. Witzig und doch nicht platt; satirisch und doch eine echte Geschichte erzählend; ironisch und dennoch nicht unverbindlich. Man mag Holm, und man versteht ihn letztlich auch, wenn man sich auf seine Logik und Weltsicht einlässt. Und mehr noch: wer ehrlich zu sich selbst ist, entdeckt vielleicht in abgeschwächter Form auch die eine oder andere Marotte Holms bei sich und kann daher auch herzhaft über sich selbst lachen. Oder kräftig schlucken und versuchen, es in Zukunft anders zu machen.
P.S.: wie treffsicher Keidtel schreibt, kann man daran erkennen, wenn er Nebenfiguren  in nur einem Satz so charakterisiert, dass man sie direkt bildlich vor Augen hat. Zu Ulrikes Schwester Anne schreibt er: "Dunkelhaarig und von einer krummen Nase entstellt, hatte sie die Selbstdemütigung bereits derart verinnerlicht, dass es nur noch zu einem schwachen Händedruck reichte“, zu ihrem Mann Sven „ein Hühne mit Pausbacken, man hatte vergessen, ihm ein seiner Körpergröße angemessenes Gesicht mitzugeben, schien dagegen mit sich selbst im Reinen". 


 
Almut Klotz / Rev. Christian Dabeler: Aus dem Leben des Manuel Zorn
  
Manuel klingt feminin, Zorn aggressiv – so die These der Autoren. Eine gespaltene Persönlichkeit also, ebenso wie das Buch von zwei Autoren, die aus der Sicht von zwei Personen eine Geschichte erzählen. Da ist zum einen der passive und zurückgezogene Langzeitstudent Peter, der durch einen Zufall für Manuel Zorn gehalten wird und sich fürderhin zunächst einmal für diesen ausgibt, zum anderen ein unberechenbarer und aggressiver Ich-Erzähler, über den wir erst sehr allmählich erfahren, dass er Hagen heißt und aus einer reichen Bürgerfamilie kommt. Letzterer kommt einem durch die Ich-Perspektive unangenehm nah, der erste bleibt, nicht zuletzt durch die eingeschobene Instanz eines personalen Erzählers, zum Leser zunächst ebenso auf Distanz wie zum Rest der Welt.
Man merkt schon: das ist nicht einfach Popkultur zum Wegschlürfen und sich Wiederfinden. Im Gegenteil: als Setting wurde das ins Groteske verzerrte Berlin einer nahen Zukunft gewählt, das geschickt vertraute Anknüpfungspunkte schafft, die aber gerne ins Überzogene oder Bizarre gesteigert werden. Stichworte: mysteriöse Riesenbaustellen, „janz Berlin iss untergullit“, Trash-Vernissagen. Jetzt noch einen unzuverlässigen Erzähler (Hagen), bei dem man oft nicht weiß, ob seine Wahrnehmung drogen- und alkoholvernebelt ist oder eine seiner Psychosen zuschlägt.
Klingt anstrengend? Hm, ist es vielleicht für die ersten zehn Seiten. Dann aber ist man drin und lässt sich – mal mehr, mal weniger gerne – von der Geschichte mitnehmen. Denn es gibt eine Geschichte, nicht nur Alltagsbeobachtungen. Eine recht solide Mystery-Thriller-Geschichte sogar, die handwerklich funktioniert, in der Auflösung aber (erwartungsgemäß) etwas enttäuscht. Innerhalb dieses Handlungsgerüsts gibt es dann doch die Alltagsbeobachtungen der Popkultur, nicht selten fast schon perfide dadurch gebrochen, dass die wahren Worte von einem Soziopathen gesprochen werden (etwa zum Thema Schule und Erziehung, wozu es Gedanken gibt, zu denen man nur zustimmend nicken kann, die dann aber in einer unangenehmen Gewaltphantasie enden, die man so nun auch nicht wollen kann)
Dass dabei nicht jede Wendung funktioniert, nicht jede gedankliche Spielerei zündet, schadet nicht, wenn ein Buch so voller Ideen ist. Deprimierend ist das Ganze natürlich teilweise schon, gleichzeitig aber auch verdammt unterhaltsam, stimulierend und nachhaltig. Wer seinen eigenen Zynismus also kennt und die nötige Distanz dazu hat, hat hier ein gewinnbringendes Buch vor sich.


Kai Havaii: Hart wie Marmelade

Ich bin erstaunt und erfreut. Kai Havaiis autobiographischer „Rock’n’Roll Roman aus der Provinz“ ist nicht einfach ein weiteres Stückchen Popliteratur, sondern ein komplett unprätentiöser und daher so für sich einnehmender Rückblick auf eine Rock’n’Roller-Karriere. Anders als Stuckrad-Barre, Goosen oder auch Rocko Schamoni nimmt der Extrabreit-Sänger vor allem dadurch für sich ein, dass er frei von Profilneurosen ist. Bzw. hat er die natürlich schon, aber er kennt sie und geht reflektiert mit ihnen um. Und so hat man Spaß mit mehr oder weniger erwartbaren Showgeschäft-Anekdoten, freut sich über die realisitsche Sicht des eigenen Schaffens einer Band, die zwar Punk-Wurzeln hat, aber auch zu jeder möglichen Kommerzialisierung ja sagt, und ist beeindruckt von dem nüchternen Darstellung der Heroinabhängigkeit des Sängers. Der scheinbar beiläufige Stil und die kurzen, episodenhaften Kapitel stehen der Bindung des Lesers an den Autor oder eben Romanhelden erstaunlicherweise nicht im Weg. Man amüsiert sich mit ihm über pubertäre Späßchen und ist emotional ergriffen, wenn er vom Selbstmord einer seiner Freundinnen berichtet. Vermutlich ist es die Ehrlichkeit und – schluck – Authentizität, mit der Kai Havaii die Leser auf seine Seite zieht und die für ihn einnimmt.
Ein großer Genuss und das beste Buch dieser Art seit sehr langer Zeit.

 

Valerio Varesi: Die Pension in der Via Saffi


Ach Gott, ein Krimi. Braucht's das?
Ich gebe zu, ich bin kein Freund dieses abgenutzten Genres, mache hier aber eine Ausnahme. "Die Pension in der Via Saffi" ist bereits der dritte Roman mit Commisario Soneri, den ich lese. Varesi greift auch hier Motive auf, die in seinen anderen Romanen vorkommen: der nur scheinbar begrabene Konflikt zwischen Faschisten und Kommunisten in Italien, der Gegensatz von Stadt und Land sowie das Motiv der sich verändernden Zeiten und Sitten. Anders als in den anderen Romanen ist sein Kommissar dieses Mal aber nicht nur durch seine Einstellung oder Herkunft involviert, dieses Mal gibt es persönliche Verbindungen zum Mordfall in der titelgebenden Pension, die den an sich fatalistisch und existentialistisch gestählten Commissario in seinen Grundfesten erschüttern. Wenn man andere Romane mit ihm kennt, ist das Buch ein Genuss. Der sympathische, wenn auch misanthrophe Soneri, den man bereits ins Herz geschlossen hat, steht stärker im Mittelpunkt, das existentialistische Weltbild wird vertieft, die düstere Atmosphäre, von der ich mir ja nach dem zweiten Buch gewünscht hatte, sie würde im dritten Buch strahlendem Sonnenschein weichen, wird ein weiteres Mal variiert (und zwar gekonnt, denn dieses mal ist mit Parma eine Gro0ßstadt Schauplatz), und liebgewonnene Nebenfiguren wie Soneris Freundin Angela und der prosaische Gegenpol Inspektor Juvara spielen auch wieder eine Rolle. Auch wenn Varesi hier schneller in die Vollen der Ermittlungsarbeit geht und das Buch vielleicht an manchen Stellen mit seiner Vielzahl an Namen und Nebenschauplätzen etwas überkonstruiert wirkt, bleibt man dennoch mit Spannung dabei. Das liegt an den fabelhaften Dialogen, die Varesi schreiben kann, am begrenzten Schauplatz (ein Stadtviertel in Parma), dem er überzeugend Leben einhaucht, und an der gelungenen Mischung von Krimihandlung und existentialistischer Lebensbetrachtung. Die nur schwer auszuhaltende Welt und Weltsicht wird dabei durch ironische Kommentare, anrührende zwischenmaenschliche Begegnungen sowie dem noch stärker als im letzten Roman entwickelten Motiv der Wichtigkeit des guten Essens angenehm konterkariert. Ein sehr schönes Buch, das man mit Gewinn liest; ein Krimi, wie man ihm nach meinem Geschmack nicht besser schreiben kann.


Benjamin Maack: Die Welt ist ein Parkplatz und endet vor Disneyland

Ex-"Ohrensessel"-Podcaster Benjamin Maack arbeitet ja jetzt Vollzeit für den „Spiegel“ und schreibt Literatur. Das vorliegende Bändchen enthält 11 Erzählungen aus dem Jahr 2007, da war Maack noch keine 30 – und das merkt man den Geschichten auch an.
Seine Protagonisten sind Kinder, Teenager, Mittzwanziger; seine Settings die bürgerliche Vorstadtmittelklasse. Und natürlich geht es um deren Abgründe. Tod, Krankheit, Messietum, Perversion und Depression, die in der Normalität allerorten lauern. Klingt aber zum Glück schlimmer als es ist, denn Maack lässt den didaktischen Zeigefinger unten und beschreibt einfach. Das Scheidungskind mit dem Messievater, das diesen Vater als gar nicht so unnormal ansieht; den Jungen mit den perfekten Eltern, der so gerne etwas für sich selbst hätte und bei einer Rast auf der Fahrt in den Urlaub einen toten alten Mann entdeckt, der sein Geheimnis bleibt; den Jungen, der sein Leben entrümpeln will und daher nicht mehr aus seinem Zimmer kommt. Dabei trifft er den richtigen Tonfall zwischen lakonisch und ernsthaft, schreibt unprätentiös und auf den Punkt, literarisch und doch leicht.
Drei Geschichten finde ich herausragend: die erwähnte „Ich führe nämlich ein Doppelleben“ mit dem toten alten Mann. Dann „Manuel“, in dem Maack aus der Sicht eines homophoben Riesenbabies dessen Begegnung mit einem jugendlichen, großbürgerlichen Feingeist (= Schwuchtel) beschreibt, die Geschichte mit dem auf angenehme Art seltsamsten Ende, wenn - ACHTUNG SPOILER - der schöne Manuel dem Riesenbaby unbedingt ein Gemälde zeigen will und der Prolo dieses nur durch Ergreifen (= Anpatschen) im Ansatz zu begreifen erscheint. Und schließlich „Es muss so einfach sein, Stephen Hawking zu töten“, eine politisch kaum korrekte Initiationsgeschichte über einen Jugendlichen, der meint einen ihm anvertrauten Säugling getötet zu haben. Gerade in dieser Geschichte gewinnen zwei Figuren deutlichere Konturen, mit denen Maack beweist, dass er auch das Zeug zum Roman hat.
Da soll er mal loslegen, denn ich bin und bleibe der Gattung der Erzählung gegenüber zurückhaltend. Acht bis 15 Seiten bieten einfach nicht viel Raum, außer man will à la Roald Dahl nur auf eine Pointe hinaus. Aber andererseits sehe ich auch schon ein, dass die Erzählung als Fingerübung für ernsthafte Autoren notwendig ist, und jeder Gang in den örtlichen Thalia zeigt ja auf den ersten Blick, dass es viel zu viele Autoren gibt, die es nicht mehr unter 400 Seiten machen.
Nein, gut Ding soll Weile haben. Insofern eine schöne erste Begegnung mit dem Autor Benjamin Maack, bei der ich mir nur gewünscht hätte, ein etwas größeres thematisches Spektrum vorzufinden. Wenn die elf Geschichten die Visitenkarte des Autors sein sollen, geht es ein wenig zu sehr um spätpubertäre Nöte, Schuldgefühle und Tod. Wenn dies als thematische Klammer Absicht gewesen sein sollte, nehme ich alles zurück.



Jörg Fündling: Marc Aurel

Mein Sachbuch des Jahres.
Nach dem großen Genuss der Lektüre seines Bandes zu Sulla am Strand von La Grande Motte ist die Neuauflage des historischen Lektüregenusses unter südlicher Sonne am Pool mit Meerblick im spanischen Teulada voll gelungen. Einmal mehr gelingt es Jörg Fündling eine historische Persönlichkeit von allen Seiten her zu beleuchten, einmal mehr genügt das Buch allen wissenschaftlichen Ansprüchen und ist dabei doch inhaltlich spannend und sprachlich ansprechend. Fündling gelingt es scheinbar mühelos, die richtigen Worte zu finden. Er schreibt prägnant und auf den Punkt und schafft es mittels Wort- oder Zitatewahl auch immer mal wieder ein ironisches Augenzwinkern oder sogar einen satirischen Seitenhieb zu landen. Bei allem Bemühen um Ausgewogenheit und Objektivität (soweit diese möglich ist), ist dennoch eine Haltung zur Person Marc Aurel erkennbar. Dessen Körperfeindlichkeit und schädlichem Perfektionismus zum Beispiel steht der Autor skeptisch gegenüber. Dieses Ergreifen einer Position, ohne für deren Vertreten die Sachlichkeit und den Facettenreichtum der Darstellung aufzugeben, nimmt mich besonders für das Buch ein. Denn es sind diese Momente, in denen das Engagement des Autors besonders durchschimmert und die dem Skelett der Fakten Fleisch verleihen. Wie schon bei Sulla arbeitet sich der Autor engagiert an einer widersprüchlichen Persönlichkeit ab, zu der er einen wie auch immer gearteten Bezug zu haben scheint. Und dieses Engagement springt auf den Leser über. Ich weiß bei so einer Lektüre wieder, warum ich einmal dieses Fach studieren wollte (was man vor lauter Kompetenzorientierung und Basisnarrativen schon mal aus dem Blick verlieren kann). Bekanntes wurde mit dieser Lektüre reaktiviert, vorhandenes Wissen vertieft, Lücken geschlossen und Zusammenhänge klarer erkennbar. Auch die Bezüge zu aktuellen Phänomenen, wie die These, dass Marc Aurel unter Essstörungen litt, was plausibel nachgewiesen wird, überzeugen.
Ein kleiner Abzug für ein paar Passagen, die für mich über das Ziel hinausschießen. Hier wird etwas wild assoziiert, etwas zuviel vorausgesetzt und zu sehr für den eigenen Elfenbeinklüngel geschrieben, was in einem Buch aus einer WBG-Reihe, die sich an sich an ein breiteres Publikum richtet, etwas unpassend erscheint.


Die Warnung: 

Tom Rob Smith: Kolyma 

Dass man von Tom Rob Smith keine subtile Auseinandersetzung mit Stalinismus, KGB und Gulagsystem erwarten darf, wurde schon in „Child 44“ klar. Dennoch funktionierte dieses Buch als temporeicher, düsterer Thriller mit Polithintergrund. Überzeichnet und reißerisch, aber auch verdammt unterhaltsam. Dazu kam der Kunstgriff des Antihelden, der ein – zunächst auch überzeugter – KGB-Agent ist, mit dem der Leser aber dennoch mitfiebert.
Im Nachfolgebuch „Kolyma“ gibt es so manches Problem. Dass Protagonist Leo eigentlich ein Guter ist, wissen wir ja inzwischen, also muss neues Ungemach über ihn von außen hereinbrechen, namentlich durch seine pubertierende Adoptivtochter und eine rachelüsterne Dame aus seiner Vergangenheit. Eine Grundkonstellation, in der sich Charaktere nicht entwickeln können, und dass das Teenie-Mädel am Ende zu ihrem Daddy zurückfinden wird, ist selbst in der düsteren Welt des Tom Rob Smith von Anfang an relativ klar.
Auch in seiner Kernkompetenz des Spannungsromans tut sich Smith dieses Mal schwer. Zwar sorgt am Anfang des Buches die berühmte Parteitagsrede Chruschtschows, in der dieser die Auswüchse des Stalinismus anprangert, für Spannung, da dieses Eingeständnis von Fehlern die bis dahin zum Schweigen gebrachte Opposition mobilisiert und die herrschende Elite in Gefahr bringt. Zugespitzt bei Smith in Lebensgefahr, da eine auf Rache sinnende Bande beginnt, stalintreue Führungskader zu ermorden. Doch nach dem originellen Einstieg gehen dem Autor recht bald die Ideen aus. Die renitente Adoptivtochter unseres Helden Leo wird gekidnappt, und, um sie wiedersehen zu können, soll er aus einem sibirischen Gulag einen von ihm selbst dorthin beförderten politischen Gefangenen befreien. Oh ja. Man sieht den Zaunpfahl in Richtung Hollywood winken. „Für das Leben seiner Tochter muss er alles riskieren. Undercover im härtesten Arbeitslager der Welt.“ Etc, etc. Und so geht man mit Leo auf die actionreiche, aber überraschungsarme Reise nach Sibirien. Wobei die Action auch wirklich nicht gut ist. Im typischen Bestreben eines zweiten Teils, die Superlative des ersten noch zu toppen, gerät unser Held in etwa ein Dutzend ausweglose Situationen und überlebt Attacken und Verwundungen, die niemand überleben kann. Leider ist das selten spannend und temporeich, sondern häufig hektisch und vorhersehbar erzählt. Zu verraten, dass Leo dem Gulag entrinnt, ist sicherlich kein Spoiler, und Tom Rob Smith hätte gut daran getan, seinen Roman dann einfach enden zu lassen. Stattdessen schließt er einen dritten Teil an, der den Ungarnraufstand 1956 behandelt und dem Buch den Todesstoß gibt. Denn hier greifen die handelnden Figuren in historische Abläufe ein, und das Buch verliert damit seinen letzten Rest an Glaubwürdigkeit. Es mag ja noch angehen, alle möglichen grausamen Gulaggeschichten zu bündeln und diese als historischen Hintergrund für ein Ausbruchsdrama zu verwenden (man mag das geschmacklos finden und Exploitation nennen, aber als Story funktioniert so etwas häufig gut), aber Reißbrettcharaktere als Strippenzieher hinter dem Ungarnaufstand zu verkaufen, ist ein Schlag ins Gesicht für alle an diesem Aufstand Beteiligten. Mich würde mal interessieren, wie sich dieser Roman in Ungarn verkauft hat. Als Ungar wäre ich jedenfalls not amused. Nein, Teil drei der Trilogie werde ich mir schenken. Und was den Autoren-Shooting-Star betrifft, bin ich gespannt, ob da noch etwas nachkommt.