Dienstag, 5. Januar 2016

Das Filmjahr 2015

Victoria“ ist der Film des Jahres,…

…den ich mir hätte schenken können.
Doch halt, ich greife vor. Vielleicht erst einmal etwas zu den besten Filmen des Jahres und dann zur „Rettung des deutschen Kinos“ im Jahr 2015.

Die besten Filme des Jahres

Von meinen drei Lieblingsfilmen des Jahres ist zumindest einer auch deutschsprachig: „Das ewige Leben“ ist die, wenn ich richtig gezählt habe, vierte Verfilmung eines Brenner-Romans von Wolf Haas. Schon „Der Knochenmann“ hatte mich mit seiner Mischung aus Misanthropie, Wortwitz und einer guten Geschichte, die die brillanten Dialoge und Situationen zusammenhält, begeistert. In „Das ewige Leben“ wird es für den Brenner existentiell persönlich und die Geschichte erhält damit eine zusätzliche Tiefe, die den anderen Verfilmungen fehlt. Dass der Spaß nicht darunter leidet, liegt nicht zuletzt einmal mehr am in seiner Rolle aufgehenden Josef Hader und dem ebenfalls grandios besetzten Tobias Moretti. Eine Sequenz für die Ewigkeit ist eine der wohl langsamsten Verfolgungsjagden aller Zeiten einen Berg hinauf, in der ein Herzinfarktpatient zu Fuß einem lahmenden Moped hinterher torkelt. Wer bei dieser Beschreibung nicht befremdet den Kopf schüttelt, sollte sich den Film unbedingt anschauen.


Wesentlich ernsthafter, aber nicht weniger existenziell geht es in „Leviathan“ zu. Der russische Film zeigt den Kampf des Jedermanns Kolya gegen einen korrupten Bürgermeister, der versucht, ihm sein Haus wegzunehmen. Vielleicht kann man den Film als Kommentar auf die Zustände im heutigen Russland sehen, wie vom deutschen Feuilleton genüsslich ausgebreitet, aber gerecht wird man dem Film nicht, wenn man ihn darauf beschränkt. Kolya ist ein Mann mit Schwächen: in seiner Sturheit erinnert er an einen abgeschwächten Michael Kohlhaas, der sich immer mehr auf seine gerechte Sache versteift und darüber den Blick für alles andere verliert. Umgekehrt ist der Bürgermeister einfach ein Machtmensch und Drecksack, wie man ihn sicherlich auch im eigenen örtlichen Gemeinderat finden könnte. Genau das macht aber eine Qualität des Filmes aus. Er funktioniert universell und ist mehr als ein Kommentar auf konkrete Zustände in einem bestimmten Land. Die andere Qualität des Films sind seine epischen Landschaftsbilder. Abgesehen davon, dass sie den Film zu einem optischen Genuss machen, kann man in sie auch inhaltlich so einiges hineininterpretieren (vgl. Feuilletonartikel). Ich habe sie in ihrer Größe und Weitläufigkeit vor allem als Kontrast zu den vor ihrem Hintergrund unwichtigen und fast schon lächerlichen Konflikten, die für die Beteiligten aber existentiell sind, gesehen. Insgesamt war ich trotz des langsamen Erzähltempos sehr eingenommen von diesem epischen und wuchtigen Film und bin es bis heute.


Temporeicher geht es im Oscar-Gewinner „Birdman“ zu, auch wenn erneut ein Mann in existenziellen Nöten im Mittelpunkt des Filmes steht. Michael Keaton spielt einen ehemaligen Superheldendarsteller, der als Theaterschauspieler reüssieren will und dem kurz vor der Premiere des Stückes zahlreiche Steine in den Weg gelegt werden. Lange habe ich den Filmbesuch vor mir hergeschoben. Oscarnominierungen beeindrucken mich wenig, Regisseur Iñárritu hatte mir mit „Amores Perros“ und „Babel“ zwei eher zwiespältige Kinoerlebnisse beschert und diese ewigen Künstlerdilemmata sind von meiner eigenen Lebensrealität doch recht weit entfernt. Der primäre Grund, den Film sehen zu wollen, war für mich Michael Keaton; der Anlass bot sich, als es bei den Fantasy Filmfest Nights eine Pause zwischen zwei interessanten Filmen zu überbrücken galt. Zum Glück. Denn einmal hat die Oscarjury richtig gelegen und einen wirklich außergewöhnlichen Film prämiert. „Birdman“ ist ein einziger Rausch. Die Kamera ist ständig in Bewegung, der Film erscheint fast ungeschnitten, als Zuschauer schwebt man mit Hauptfigur Riggan durch das Broadway-Theater und wird in dessen fiebrigen Gemütszustand hineingezogen. Zum Nachdenken bleibt keine Zeit, erst nach dem Film fallen einem ein paar Szenen eventuell als überzogen auf, aber während man den Film anschaut, erlebt man wirklich zwei Stunden lang Kino. Ein in allen Belangen überwältigender Film.


Womit ich zu „Victoria“ zurückkomme. Dieser Film wirkt nicht nur ungeschnitten, sondern ist es auch. Eine beeindruckende technische und vor allem auch logistische Leistung. Aber sonst? Junge Frau verliebt sich in einen Typen, der ein Kleinkrimineller ist (aber natürlich mit gutem Herz) und gerät so in eine brenzlige Situation. So lassen sich die zweieinhalb Stunden Handlung in einem Satz zusammenfassen. Wer da mehr gesehen hat („Das ist Berlin heute! Das ist das Lebensgefühl einer ganzen  Generation!“), dem gratuliere ich herzlich. Ja, ja, da sind schon nette Dialoge. Ja, ja, nachts besoffen durch Berlin torkeln, kenn‘ ick ooch. Aber spätestens als André M. Hennicke als Inbegriff des Klischee-Obergangsters auftaucht, habe ich jegliches Interesse an dem Film verloren. Und übrigens heißt ungeschnitten auch, dass man sieht, wie Personen in Echtzeit von A nach B kommen. Also inklusive Fahrstuhlfahrten, Tür auf, Tür zu, Kameramann hinterher und so. Und das dauert, wenn man nicht Iñárritus Mut hat, innerhalb einer ungeschnittenen Szene mal kurz einen halben Tag zu überspringen. Das würde natürlich voraussetzen, dass man seinem Publikum etwas gedankliche Mitarbeit zutraut, womit wir bei einem der Grundprobleme vieler deutscher Filme wären. Doch dieses Fass mit den Herren Schweiger und Schweighöfer, mit „Fack ju Göhte 2“ und „Bruder vor Luder“ lasse ich an dieser Stelle zu und stelle lediglich fest, dass ich „Victoria“ überschätzt und allenfalls „für einen deutschen Film“ ganz gut finde. Also zum Beispiel im Vergleich zu diesem Film, der übrigens auch in Berlin spielt:

>


Die Filme des Jahres

Endlich ein neuer Bond. Gesehen habe ich ihn nicht, denn mit „Mission Impossible – Rogue Nation“ und „Codename U.N.C.L.E.“ hatte ich so viel Agenten- und Gut-gegen-Böse-Spaß, dass ich mir den humorlos wirkenden „Spectre“ mit dem als Bösewicht inzwischen überstrapazierten Christoph Waltz schenken kann. „Mission Impossible“ hingegen fühlte sich an wie ein Bond. Ein unbezwingbarer Held voller Körperlichkeit (erstaunlich überzeugend: Tom Cruise), dazu zahlreiche Gadgets und ein nerdiger Computerspezialist (wie erwartet perfekt in dieser Rolle: Simon Pegg), alles in allem also gepflegte Action mit dem nötigen Maß an Selbstironie; kein CGI-Inferno, keine Dumpfbacken-Oneliner, stattdessen bestes Hollywood-Kino für Menschen, die schon seit ein paar Jährchen Filme gucken.


Gleiches gilt für „Codename U.N.C.L.E.“, der jedoch in den 60ern zur Zeit des Kalten Krieges angesiedelt ist und an vielen Stellen erkennbar die Handschrift des Style-Over-Substance-Regisseurs Guy Ritchie trägt. Vielleicht ist das der Grund, dass der Film dermaßen gefloppt ist. Ich hatte jedenfalls sehr viel Spaß mit diesem temporeichen Stück Popcorn-Kino.



Aber mir hat ja auch der unisono gehasste Sci-Fi-Kitsch „Jupiter Ascending“ gefallen. A „glossy, entertaining hot mess“ schreibt ein Zuschauer bei der Internet Movie Database, und das trifft durchaus zu. Wenn man natürlich vom Genre Science Fiction Welterklärung, Testosteron-Action oder zumindest einen ernstzunehmenden Schurken wie Darth Vader erwartet, ist man hier falsch. Hier gibt es eine Aschenputtelgeschichte mit Mila Kunis, Ränken wie weiland im Denver-Clan und Eddie Redmayne als den überzeichnetsten Schurken des Jahres. Edeltrash vom Feinsten. Loved it!


Auch im Genre des Gangsterfilms mit politischem Subtext gab es für mich 2015 zwei herausragende Filme. Sowohl in J. C. Chandors „A Most Violent Year“ als auch in Denis Villeneuves „Sicario“ geht es um die Schwierigkeit, in einer verbrecherischen, korrupten und gewalttätigen Umgebung das Richtige zu tun und moralisch integer zu bleiben. In „A Most Violent Year“ versucht Oscar Isaac dies als Unternehmer im sumpfigen New York des Jahres 1981, in „Sicario“ Emily Blunt im Kampf gegen Drogenschmuggler an der US-amerikanischen Grenze zu Mexiko in der Jetztzeit. Chandors Film wirkt dabei dichter, die Geschichte runder und – trotz des sehr ansprechend inszenierten Zeitkolorits des Films – zeitloser als „Sicario“. Diesem zolle ich nach zweimaligem Sehen größten Respekt, und er enthält einige Sequenzen, die zu den besten zählen, die ich dieses Jahr gesehen habe – doch ins Herz schließen konnte ich ihn irgendwie nicht. Als faszinierend, aber seltsam artifiziell behalte ich „Sicario“ aber in sehr guter Erinnerung.    



Die beiden besten Horrorfilme des Jahres kannte ich schon vom letztjährigen Fantasy Filmfest. „The Babadook“ und „It Follows“ fanden im Jahr 2015 tatsächlich noch ihren Weg ins deutsche Kino. Was beide Filme großartig macht, ist, dass sie schon als reine Horrorfilme (Geistergeschichte respektive Untoten-Teenie-Slasher) ganz gut funktionieren. Richtig gut werden sie durch ihren jeweiligen Subtext. „The Babadook“ kann man problemlos auch als beklemmendes Psychogramm einer überforderten alleinerziehenden Mutter sehen,  „It Follows“, mal ganz verkürzt ausgedrückt, als psychologische, schwarzhumorige Studie zum Thema „wer fickt, stirbt“. Beide Filme haben überzeugende Darsteller (im Horrorgenre keine Selbstverständlichkeit), sind atmosphärisch, stilsicher und insgesamt einfach absolut großartig, und ich lege sie auch Leuten ans Herz, die mit Horror sonst wenig am Hut haben. 

Gestatten: Der Babadook


Wie bekomme ich jetzt die Kurve zu „Heidi“? Vielleicht indem ich erzähle, dass vernichtende Userkommentare auf der Moviepilot-Seite mein Interesse geweckt haben. Hier wurde dem Film vorgeworfen, dass er nichts mit der Trickfilmserie aus den 70ern gemein habe, dass er nicht genug lebensfrohe Szenen enthalte und somit für Kinder ungeeignet wäre. Klang großartig, war es auch. Ob der Film der Vorlage gerecht wird, weiß ich nicht, da ich nur die 70er-Jahre-Trickfilm-Serie kenne, aber ich muss sagen, dass ich ihn von dieser gar nicht so weit entfernt fand. Gut, der Film hat weniger Dauergegrinse und LSD-Farben. Auch hängt Heidi keine Schaukel zwischen den Wolken auf. Aber die Handlung war schon so, wie ich sie in Erinnerung hatte. Und ganz im Ernst finde ich, dass diese Heidi-Verfilmung von einer tiefen und ehrlichen Menschlichkeit geprägt ist, die vor allem dadurch zum Tragen kommt, dass die Lebensrealität auf dem Land bzw. eine Kindheit im 19. Jahrhundert hier realistisch und damit nicht unbedingt als angenehm dargestellt werden. Die sonstigen Pluspunkte des Films sind die wie erwartet großartigen Landschaftsaufnahmen und die unerwartet detaillierte Darstellung Alt-Frankfurts sowie Bruno Ganz, der mir als Alm-Öhi wesentlich besser gefallen hat als als Adolf Hitler.


Eine ganze Reihe guter Filme sah ich im Mannheimer Programmkino Cinema Quadrat, in dem man sich auf die geschmackssichere Auswahl der Macher verlassen kann. Hier bot sich mir die Gelegenheit, noch einmal die spanische Schneewittchen-Adaption Blancanieves zu sehen, die mich auch beim zweiten Mal in Entzücken versetzte, und Abdellatif Kechiches „Blau ist eine warme Farbe“ nachzuholen. Kechiches Filme, zu denen auch „L’esquive“ und „Couscous mit Fisch“ gehören, lege ich allen ans Herz, die Filme über Zwischenmenschliches mögen. Normale Menschen in recht alltäglichen Situationen, die Kechiche geduldig beobachtet, und zwar durchaus mit Anteilnahme, aber immer noch so distanziert, dass der Zuschauer stets selbst entscheiden kann, was er von bestimmten Verhaltensweisen der Filmfiguren hält. Ähnlich subtil fand ich den argentinischen Film „Abrir Puertas y Ventanas“, in dem drei Schwestern nach dem Tod ihrer Großmutter lernen müssen, allein im Leben zurecht zu kommen. Der Großteil des Films spielt im Haus der Großmutter, das trotz der offenen Türen und Fenster, auf die der Filmtitel abhebt, wie ein goldener Käfig ist, aus dem die drei jungen Frauen lange nicht herauszutreten wagen. Ein auf den ersten Blick sehr leiser und handlungsarmer Film, der aber bei genauerem Hinsehen sehr dicht und konzentriert inszeniert ist und bei dem Kommunikation oft nonverbal abläuft. Ich fühlte mich sehr an meinen letztjährigen Arthouse-Liebling Like Father,like Son erinnert.


Bevor es jetzt aber zu gefühlig wird, haue ich noch mal einen handfesteren Film raus. Sion Sono, der Garant für mehr oder weniger gepflegten Irrsinn, bereitete mir in diesem Jahr vor allem mit seinem Battle-Rap-Film „Tokyo Tribe“ große Freude. Eigentlich ein Musical, aber eben mir japanischer Rapmusik, Action, Gewalt, massig Spezialeffekten, waghalsigen Kamerafahrten und einem enormen Tempo; griechische Tragödie, Shakespeare, grellbunter Kitsch und Gangster-Pulp-Fiction. Und wer nach knapp zwei Stunden audiovisueller Überwältigung noch irgendetwas aufnehmen kann, bekommt am Ende sogar eine kleine menschliche Botschaft nachgeliefert. Wie schön. Oh, und Hut ab vor der Untertitelung dieses Filmes, der es tatsächlich größtenteils gelang, den Flow der gerappten Passagen so wiederzugeben, dass das Mitgelesene immer noch zur Musik passte. 


Ansonsten kann ich mit „Der große Demokrator“ und „Von Caligari zu Hitler“ zwei sehr spezielle Dokumentationen empfehlen. Eine DVD-Entdeckung war der Film „Locke“ (deutscher Titel: „No Turning Back“, ja, deutsche Verleiher halten ihr Publikum auch weiterhin für etwas minderbemittelt), in dem Tom Hardy auf einer Autofahrt wesentliche Lebensentscheidungen trifft. Der Film ist ein Kammerspiel auf engstem Raum (fast die komplette Handlung spielt im Auto) und eine schauspielerische Glanzleistung Hardys. Eine echte Entdeckung, die ich Freunden des Dialogkinos ans Herz lege.


Enttäuschend fand ich hingegen die durch und durch kommerzialisierten „Minions“, ein Film ohne Herz und Seele, der versucht, alles richtig zu machen, um einen möglichst großen Profit zu erwirtschaften. Und die kleinen gelben Anarchocharaktere werden einem in ihrer Omnipräsenz bald so zum Hals raushängen wie vor vielen Jahren Alf und Garfield am Ende ihrer Verwertungskette. Recht seelenlos und leider auch ziemlich prätentiös fand ich Alex Garlands „Ex Machina“, der zum Thema künstliche Intelligenz jetzt auch nicht so viel Neues und vor allem Interessantes sagen kann, wie er gerne würde. Und schließlich hatte ich mir auch von der Verfilmung von Tom Rob Smiths Roman „Child 44“ mehr versprochen. Ziemlich verkrampft kam diese hochkarätig besetzte Verfilmung daher, was mich letztlich viel mehr gestört hat als der unvermeidliche Verlust der Komplexität der Romanvorlage. Der Film ist weder spannend noch actionreich, sondern wirkt so, als wäre den Machern zu jedem Zeitpunkt bewusst gewesen, dass ihr Film hinter dem Buch zurückbleiben wird.

Schließen möchte ich aber mit einem letzten Kino-Höhepunkt, den es auch schon auf DVD zu kaufen gibt. „Die Legende der Prinzessin Kaguya“ ist ein Studio-Ghibli-Film, allerdings nicht vom bekannten Regisseur Miyazaki, sondern von Isao Takahata. Dessen Stil unterscheidet sich vor allem in der Ästhetik. Die Bilder wirken wie Tuschezeichnungen, sind teilweise extrem stilisiert oder wirken wie Skizzen und fast schon abstrakt, und dennoch ist der Film zart fließend animiert. Und so schön, dass man ihn immer wieder anhalten möchte, um ein Bild länger betrachten zu können. Dazu kommt die ungewöhnliche Geschichte des weiblichen „Bambussprösslings“, der von seinen wohlmeinenden, aber auch etwas eitlen Zieheltern aus einer einfachen, aber unschuldigen Welt im Lot herausgerissen wird und zur Adligen erzogen wird. Klingt schon wieder nach „Heidi“, geht aber inhaltlich weitaus tiefer und verwehrt dem Zuschauer ein Happy End. Ein bittersüßes Meisterwerk, das einen mit der Frage konfrontiert, wann man das letzte Mal so richtig glücklich. Und zwar nicht nur im Kino, sondern im wahren Leben.