Mittwoch, 26. Dezember 2012

Das Kinojahr 2012 - Teil I - Was bleibt



Drive ist der Film des Jahres. Darüber sind sich Ulrich Kriest im Filmdienst, die Flimmerfreunde (http://www.flimmerfreunde.de/?p=965), die Narrentalker (http://dvdnarr.com/podcast/2012/02/18/narrentalk-podcast-no-64/) , und die Macher des Offenbacher Hafenkinos einig. Ich teile die Begeisterung voll und ganz und zitiere, was ich schrieb, nachdem ich den Film zum zweiten Mal gesehen hatte:

„Ein ganz großartiger Film, wenn man in den 80ern Miami Vice mochte. Kühle, stilisierte Ästhetik; ein großartiger Elektro-Soundtrack; eine Geschichte, die nicht gut enden kann. Actionfans mag es zu wenig krachen und Arthousefreunde dürften sich an ein paar zünftigen Gewaltausbrüchen in der zweiten Hälfte stören. Wer aber Genrefilme mit Tiefgang schätzt und Spaß daran hat, Referenzen zu entziffern, kann hier kaum etwas falsch machen.“

Ein Konsensfilm für Geschmackssichere. Und falls noch Zweifel bestehen:


Der zweite Konsensfilm, um den ich nicht herumkomme, ist natürlich der allseits beliebte Ziemlich beste Freunde. Zwar melden sich inzwischen die Nörgler zu Wort, aber das sind m. E. nur Fundamentaloppositionelle, die wahrgenommen werden wollen, oder Leute mit Stock im Arsch wie Antje Wessels von buy-a-movie.de. Denn kaum ein Film hat mir im Jahr 2012 solchen Spaß gemacht wie dieser.  


Fraktus natürlich noch. Die Fake-Doku über die deutschen Elektropioniere ist eine wunderbare Spielwiese für die drei Herren vom Studio Braun. Insofern ein deutsches „Spinal Tap“ mit gepflegtem Wahnsinn als Bonus, etwa wenn Dönerspieße zur Waffe werden, ein unbedarfter Kameramann versucht, Instrumente aus einer Garage zu stehlen oder Bernd Wand Verdacht auf Kongozunge bei sich selbst diagnostiziert: 




Überhaupt war der deutsche Film 2012 wieder einmal wesentlich besser als sein Ruf.

Erster Höhepunkt: Christian Petzolds neuer Film Barbara, zu dem ich festhielt:  

„Christian Petzolds Filme wirken immer etwas spröde. Es wird meist wenig gesprochen, lange, ruhige Einstellungen dominieren und die Filmmusik beschränkt sich auf einzelne, handlungsrelevante Stücke. Sein neuer Film "Barbara" macht da keine Ausnahme, doch tragen all die genannten Elemente hervorragend dazu bei, die beklemmende Atmosphäre des Misstrauens darzustellen, das die Titelfigur Barbara im Jahr 1980 in der DDR nach ihrer Strafversetzung in die Provinz empfindet. Petzolds Film zeigt, wie ein Staat durch seine Bespitzelungspraktik Einfluss auf das Privatleben seiner Bürger nimmt und normale menschliche Bindungen erschwert oder gar verhindert. Er tut dies differenziert und fair und hebt sich damit wohltuend vom inzwischen etablierten DDR-Bild aus Club-Kola, Platte und Stasi-Knast ab. Mit Nina Hoss hat er zudem eine exzellente Hauptdarstellerin gefunden, die auch ohne Worte ganz viel ausdrücken kann.“

Und Monate später sehe ich Nina Hoss immer noch auf dem Fahrrad gegen den Wind auf den Dünen ankämpfen. Nachhaltige Bilder, intensives Erzählen – wobei ich mich davor hüte, Christian Petzolds Filme zu empfehlen, denn damit bin ich bisher noch nie erfolgreich gewesen. 


Ebenfalls nicht empfehlen werde ich vor diesem Hintergrund Die Wand. Martina Gedeck findet sich plötzlich allein und isoliert auf einer Berghütte wieder, die von einer unsichtbaren Mauer umgeben zu sein scheint. Beklemmende Bilder, Anklänge ans Horrorgenre und die Frühromantik, eine Studie über Einsamkeit und Isolation, ein spannender Film über das Überleben, garniert mit einer fantastischen schauspielerischen Leitung und atemberaubenden Aufnahmen von Bergpanoramen. Insgesamt dann auch noch erfreulich uneindeutig und doch dramaturgisch stimmig und straff erzählt; ja, jetzt, wo ich das so schreibe, wackelt fast der Spitzenplatz von Drive, so gut fand ich diesen Film.


Eindeutiger ging es in Andreas Dresens Halt auf freier Strecke zu, einem ehrlichen, erschütternden und nie melodramatischen Film über das Sterben. Der klassische Kinotipp der katholischen Filmkritik, und das meine ich uneingeschränkt positiv.


Und schließlich bescherte mir der deutsche Film auf den letzten Metern des Jahres noch Oh Boy, diesen liebenswerten, kleinen Berliner Slackerfilm mit Tom Schilling, der so unaufdringlich daherkommt und eine grandiose Sketchsituation an die nächste reiht. Kaffeekauf, Idiotentest und Besuch vom neuen Nachbarn – der Wahnsinn ist ein alltäglicher; stets aus dem Leben gegriffen und dann hübsch überspitzt, oft auf dem schmalen Grat zwischen Beklemmung und Amüsement und dabei immer trittsicher. Der Film mit dem höchsten Sympathiefaktor des Jahres, bei dem man sich auch ohne Bedenken den Trailer schauen kann, ohne dann schon alle Gags zu kennen.



Außerdem möchte ich noch eine Lanze für einen deutschen Genrefilm brechen. Du hast es versprochen ist keinesfalls weltbewegend oder bahnbrechend, aber ein kleiner, gelungener Mysterythriller mit guter Geschichte und stimmungsvollen Bildern, bei dem sich das ein oder andere Mal sogar eine wohlige Gänsehaut einstellt. Warum ich den Film in solch illustrer Gesellschaft erwähne? Weil ich Regisseurin Alex Schmidt dafür dankbar bin, dass sie es geschafft hat, einen ordentlichen deutschen Genrefilm zu drehen.  


Die echten Höhepunkte des Genrekinos gab es allerdings einmal mehr auf dem Fantasy Filmfest.

Ole Bornedal lieferte mit The Possession perfekten Exorzismushorror, der schmutzige, kleine 13 Eerie bot angenehm unschönen Zombiesplatter mit einigen Verneigungen vor Lucio Fulci und Konsorten, und der später katastrophal vermarktete The Hidden Face / Das verborgene Gesicht war sicherlich der durchdachteste Mysterythriller des Jahres. Mit A Gang Story gab es ein wunderbares französisches Gangsterepos mit dem beeindruckend wandelbaren Gérard Lanvin und Ace Attorney räumte gleich mit zwei Vorurteilen auf, nämlich a) dass man aus einem Videospiel keinen guten Film machen kann und b) asiatischer Humor für Westeuropäer unverständlich ist. Wenn jeder Freispruch mit einem Konfettiregen gefeiert wird, dann ist das einfach verdammt witzig.

Absolute Höhepunkte des filmischen Wanderzirkus waren dieses Jahr jedoch God Bless America, ein Film, der in erster Linie ein schwarzhumoriges, gesellschaftskritisches Traktat darstellt, das wohl vielen aus der Seele sprach, und Detention, ein intelligenter, schneller, greller, mitunter kreischiger und streckenweise extrem witziger Film, dessen Ideenreichtum erfreulich selten ermüdet und der seine nicht minder kritische Einstellung bei aller visueller Aufdringlichkeit erstaunlich dezent und geschickt verpackt. Übertroffen wurden diese beiden lediglich noch von Sightseers, dem neuen Film des Wunderknaben Ben Wheatley, der mich letztes Jahr mit dem Genrebastard Kill List begeisterte. Sightseers in ein Roadtrip durch das ländliche England, das wie eine nerdige Liebeskomödie beginnt und sich zu einer Reise mit Serienmördern entwickelt. Komik, zwischenmenschliche Abgründe und Gewalt so gekonnt auszubalancieren gelingt meiner Meinung nach nur in britischen Filmen. Anders als in God Bless America, in dem die Feindbilder klarer sind und die Gewalt stilisierter ist, führt Sightseers seine Zuschauer mehr als einmal auf das dünne Eis der Komplizenschaft. Hat man sich eben noch darüber gefreut, dass der Öko-Nazi vom National Trust von unserem Antihelden ordentlich Gegenwind bekommt, ist man schon im nächsten Moment beschämt, wenn der Unsympath äußerst gewalttätig um‘s Leben gebracht wird. Hier wird der Zuschauer herausgefordert, hier wird Kino interessant.



Objektiv weit weniger gelungen, aber subjektiv ein reines Vergnügen waren für mich Sinister und Chernobyl Diaries. Sinister ist eine perfekte Geisterbahnfahrt, Dämonengrusel in Reinform, der keinen Effekt auslässt und damit perfekt unterhält. Ich sah den Film an einem Samstagabend inmitten kreischender irischer Teenager, was den erwünschten Effekt noch verstärkte. Perfekt für Fans. 
Zu Chernobyl Diaries zitiere ich mich noch einmal selbst:

„Ein Film aus der Abteilung "guilty pleasures". Natürlich ist es geschmacklos einen Horrorfilm, der reines Popcorn-Kino ist, in Tschernobyl anzusiedeln. Klar sind die Charaktere - selbst für Horrorfilmstandards - extrem eindimensional. Zweifelsohne ist Handlungslogik nicht gerade die Stärke des Films. Aber mal ehrlich: spielt das alles eine Rolle? "Chernobyl Diaries" punktet mit Spannung und Atmosphäre. Gedreht wurde, wie man dem Abspann entnehmen kann, in Serbien und Ungarn, und insofern ziehe ich meinen Hut vor Location-Scouts und den Ausstattern, denn der Film wirkt nie, als sei man in einem Studio, sondern zieht einen gerade durch das authentisch anmutende Setting in seinen Bann. Verfallende Plattenbauten sorgen schon lange vor Beginn des eigentlichen Horrors für Grusel. Überhaupt setzt der Film eher auf klassische Erschreckmomente als auf blutige Details, was ich in Zeiten, in denen selbst Durchschnittsfilmchen wie „Turistas“ eine minutenlange Amputation zeigen müssen, als sehr wohltuend empfinde. Perfektes Popcornkino also, die nur durch das Dauergeplapper, Handygechecke und Rumlatschen einiger aufgekratzter Jugendlicher gestört wurde. Doch spricht die erkennbare Nervosität dieser jungen Menschen für die Qualität des Films. Insofern eine klare Empfehlung für Genrefreunde.“

Nach soviel Schrecken muss ich jetzt aber endlich einmal einen familienfreundlichen Film lobend erwähnen:

„Ach, was für ein Spaß! Piraten – ein Haufen merkwürdiger Typen ist ein Animationsfilm der britischen Aardman Studios, jener Produktionsfirma, die uns Wallace & Gromit beschert hat. Das ist schon mal eine Ästhetik, mit der ich mehr anfangen kann, als mit der quietschbunten Computerkünstlichkeit der Marktführer im Animationsbereich. Dazu kommt der britische Humor, der sich auch in „Piraten“ finden lässt, zusätzlich zu einer kaum überblickbaren Fülle von Anspielungen auf britische Geschichte, Literatur und Lebensart. Die Story ist hübsch schräg und mischt fiktive Piraten mit historischen Personen wie Charles Darwin und Königin Viktoria. Letztere ist die eigentliche Schurkin des Films und in allerlei Action verwickelt, was vielleicht den kreativen Wahnsinn der Handlung andeutet. Natürlich ist auch dieser Animationsfilm kindgerecht. Die Botschaft, dass Ehrlichkeit am längsten währt und nur wahre Freundschaft zählt, findet sich auch hier. Und auch die unvermeidliche übertriebene Hektik und Action zeitgenössischer Animationsfilme muss man phasenweise über sich ergehen lassen. Aber mitgeschleifte Eltern, die andere Ansprüche an Kinofilme stellen als ihre Sprösslinge, werden hier besser bedient als etwa in flauen und dennoch wohl recht erfolgreichen Filmen wie „Kung Fu Panda 2“ oder dem Shrek-Spin-Off „Puss in Boots“. Denn bei allem Tempo gibt es in „Piraten“ eine große Liebe zum Detail bis ins einzelne Bild. Selten habe ich mir so oft gewünscht, den Film einmal kurz anhalten zu können, um alle versteckten Scherze im Hintergrund aufzusaugen. Dankenswerterweise tauchen viele davon im Abspann noch einmal auf, so dass man einen zweiten Blick auf sie werfen kann. Der perfekte Ferienfilm für einen verregneten Sommernachmittag.“

Ähnlich familienfreundlich ist in gewisser Weise Tim Burtons neuster Geniestreich, Dark Shadows, ein Film, der weder von der Kritik noch vom Publikum sonderlich beachtet oder geschätzt wurde. Ich hingegen vergab leichtfertig 10 Punkte:

„Ich kann nicht sagen, ob Dark Shadows wirklich ein guter Film ist. Tim Burton; Johnny Depp; Michelle Pfeiffer; ein Vampir aus dem 18. Jahrhhundert, den es in die 1970er verschlägt – da  setzt bei mir die Objektivität aus. Ich kann nur sagen, dass ich mich über die gesamte Laufzeit des Films großartig unterhalten habe. Das gelungene Set- und Productiondesign, Johnny Depps exzentrisches, aber nie überzogenes Spiel, die Anspielungen auf alle möglichen Gruselfilmklischees, die hervorragend ausgewählten 70er-Songs, das ausgewogene Maß an Grusel und Komödie. Fantastisch. Gerade letztgenannte Mischung wird dem Film aber an der Kinokasse vermutlich das Genick brechen, denn Burton scheint die (mir unbekannte) Fernsehserie, die die Vorlage für seinen Film darstellt, so sehr zu schätzen, dass er sie nie der Lächerlichkeit preisgibt und damit auch nie ihr – oft unfreiwillig – komisches Potential ausschöpft. Seine Fans macht er auf diese Weise allerdings glücklich: „Noch mal bitte“,  sagt eine junge Dame in der Reihe vor mir mit seligem Lächeln im Gesicht zu ihrer Begleiterin, nachdem der Abspann zu Ende ist. Das bringt es auf den Punkt.“

Und einen weiteren Film, der ansonsten eher verhalten aufgenommen wurde (zu schwerfällig, zu düster, zu pathetisch, zu selbstverliebt), möchte ich an dieser Stelle noch in höchsten Tönen loben: The Dark Knight Rises. Für mich hat der Abschluss von Christopher Nolans Batman-Trilogie von vorne bis hinten Sinn ergeben. Die Mischung aus Handlung und Action hat gestimmt, es gab massig Schauspieler, die ich gerne sehe, der Film war spannend, düster (= positiv) und führte alle losen Enden der anderen Teile zusammen. Kann man mehr wollen? Ich nicht!


Abschließend bleibt mir der Hinweis auf drei herausragende Dokumentarfilme, Marley, The Substance – Albert Hofmanns LSD und More than Honey, und auf die exzellenten Projektionen der Klassiker Rebel Without A Cause, The Saga of Anatahan und Strangers On A Train im Kino des Frankfurter Filmmuseums, die dieses exquisite und abwechslungsreiche Kinojahr rückblickend abrunden.



Weitere gute Filme (in chronologischer Reihenfolge):

The Ides Of March

Sherlock Holmes – Spiel im Schatten

J. Edgar

Coriolanus

A Dangerous Method

Dame, König, As, Spion

Superclassico

The Artist

Nathalie küsst

Moonrise Kingdom

Der Gott des Gemetzels

Killer Joe (Fantasy Filmfest)

Eden (Fantasy Filmfest)

Cabin in the Woods

Liebe (ein an sich ganz vorzüglicher Film, dem aber leider das meiner Meinung nach unnötig zugespitzte Ende sehr viel von seiner Wirkung nimmt

Killing Them Softly



DVD-Entdeckungen:

Out of the Blue – 22 Stunden Angst (Spielfilmverarbeitung eines Amoklaufs in Neuseeland aus dem Fantasy-Filmfest-Umfeld; spannend, beklemmend und intensiv)

Hunger (erste Kollaboration von Michael Fassbender und Steve McQueen, die uns dieses Jahr Shame bescherten. Es geht um einen Hungerstreik politischer Gefangener; kein Film für Zwischendurch, sondern kompromissloses Kino, inhaltlich und visuell herausfordernd)

Julia’s Eyes (stimmungsvoller spanischer Mystery-Horror, der erst gegen Ende etwas den Faden verliert, zuvor aber perfekt unterhält)
 
Hilfe, Ferien! (sympathische Familienunterhaltung für Frankreichfans, von den Machern von "Ziemlich beste Freunde").

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