Es gibt kaum etwas Subjektiveres als einen
Konzertbesuch. Wenn es blöd läuft, hat man Karten für Matthew E. White, wäre
aber eher in der Stimmung für Deichkind. Mal hätte man sich mehr Zuschauer für Band
oder Künstler gewünscht und fühlt sich in einem großen Saal verloren, mal verflucht
man den Hype, da man nur den Stiernacken des Vordermanns sieht und bei jedem mit
hochgerissenen Armen skandierten „Ja, Mann!!“ seinen Begeisterungsschweiß riecht.
Aber gar nicht so selten stimmt alles, oder es spielt eine Band,
die einen alle widrigen Umstände vergessen macht. Motorama konnten mich im
ersten Halbjahr 2015 gleich dreimal vollkommen entzücken, Balthazar gelang es
im Dezember, das komplette Glück hervorzurufen. Wandas Rockzirkus funktionierte
sowohl im Festival-Kontext auf dem Maifeld Derby als auch in der ausverkauften
Halle 02 in Heidelberg. Ähnlich verschwitzt verließ ich das Konzert nur beim alljährlichen sommerlichen Gastspiel der kolumbianischen Stadionrocker Doctor Krápula im beschaulichen
Frankfurter Bett. Musikalisch haben mich Austra und Von Spar komplett
mitgerissen, wobei hier vermutlich eine Rolle spielte, dass ich beide Konzerte
neugierig, aber ohne große Erwartungen besucht habe. Und schließlich ist es manchmal einfach die
Person, die den Zauber ausmacht. Das Konzert mit dem größten Sympathiefaktor
spielte der entspannte und gut gelaunte Erlend Øye auf dem leider letzten
Rüsselsheimer Phonopop Festival, und auch Anna Aaron fand ich im Rahmen des „Vereinsheims“,
in dem sie zusammen mit Stefan Honig und David Lemaitre auftrat, einmal mehr vollkommen entzückend.
Von Spar (Maifeld Derby, Mannheim) Erlend Øye & The Rainbows (Phonopop Festival, Rüsselsheim)
Anna Aaron (im Rahmen von "Das
Vereinsheim", Alte Feuerwache,
Mannheim)
9/10 – herausragende Konzerte
Wie subjektiv Konzerterlebnisse sein können, zeigt auch die zweite Liste.
Empfand ich Archive vor ein paar Jahren im Karlsruher Substage noch als leicht
nervige und aufgeplusterte Krachcombo, überzeugte mich ihr druckvoller Postrock
im großen Zirkuszelt des Mannheimer Maifeld Derbys komplett. Zoot Woman, die
ich als leicht langweilige Hipster abgespeichert hatte, nahmen mich im für ihre
Art von Musik und Show viel zu klein geratenen Frankfurter Zoom vollständig für
sich ein.
Ansonsten finden sich mit Róisín Murphy, Gabby Young und Joachim Witt in
dieser Liste drei begnadete Rampensäue, deren Musik ich zu Hause nicht unbedingt
(ach, ehrlich gesagt eigentlich gar nicht) höre, denen ich aber jederzeit gerne
wieder zujuble, wenn sie eine Bühne betreten. Ghostpoet und Fink waren echte
musikalische Entdeckungen, The Notwist bewährte Qualität, wobei
ich das Ambiente des Sitzkonzertes im Ludwigshafener Theatersaal nicht optimal
fand. Und Get Well Soon spielten in der ausverkauften Frankfurter Brotfabrik
drei Konzerte in einem einem. Sehr speziell und sehr, sehr gut.
Hier die Liste:
Get Well Soon (Brotfabrik, Frankfurt)
Zoot Woman (Zoom, Frankfurt)
(hier auf ungleich größerer Bühne)
Róisín Murphy (Maifeld Derby, Mannheim)
Gabby Young & Other Animals (Centralstation, Darmstadt)
das einzige Konzert des Jahres 2015, bei dem ich zum Smartphone griff und fotografierte
Joachim Witt (Batschkapp, Frankfurt)
Fink (Maifeld Derby, Mannheim)
Ghostpoet (Maifeld Derby Mannheim)
Archive (Maifeld Derby, Mannheim)
The Notwist (Theater im Pfalzbau, Ludwigshafen)
8/10 - sehr gute Konzerte
Was sonst noch im Gedächtnis bleibt, sind Konzerte, die auf die eine oder
andere Weise besonders waren. Kraftwerks 3D-Show in der Frankfurter
Jahrhunderthalle war erwartungsgemäß überwältigend, Alt-Js bombastische
Lightshow hatte ich so nicht erwartet, fand sie aber eine geschmackssichere und
passende Ergänzung zur Musik, die mich leider nach wie vor nicht auf Dauer elektrisiert.
Die Sterne und Element of Crime sind mir in inzwischen zwei Jahrzehnten
(*schluck*) so ans Herz gewachsen, dass ich ihre Konzerte auch dann genießen
kann, wenn mich das gerade aktuelle Album wenig berührt. Auch Jacques Palminger
ist mir musikalisch mit den Kings of Dubrock zwar näher, konnte mich aber
selbst mit einer Jazzcombo im Gepäck faszinieren und begeistern. Ähnlich
verhält es sich mit dem Rapper Astronautalis, der das Zirkuszelt des Maifeld
Derbys am Sonntagnachmittag so zum Toben brachte, dass er es selbst kaum
glauben konnte; ein Charismatiker, dessen Musik ich im heimischen Wohnzimmer
aber vermutlich nicht lange ertragen könnte. Musikalische Entdeckungen gab es
für mich hingegen mit Okta Logue, Other Lives, Battles und Lars Bygden, und bei
José Gonzalez, Station 17 und Ulrich Schnauss die erhoffte und erwartete Qualität. Ein besonderes Konzert war das von Mia im spärlich besuchten Musiktheater Rex in Bensheim. Hatte diese Band nicht vor ein paar Jahren noch
die Stadthalle Offenbach gefüllt? Büßt Sängerin Mieze jetzt für ihre Teilnahme
in einer Castingshow-Jury? Wollte man den Erfolg zu sehr und hat den
damit Bogen überspannt? Oder sitzt der Mia-Fan von vor fünf Jahren
inzwischen stressgeplagt zwischen Kleinkindern und Karriere im lange noch nicht
abbezahlten Eigenheim und kann es sich daher nicht mehr erlauben, unter der
Woche auszugehen? Wie immer die Antwort auch ausfällt, ich hatte das Glück eine
energiegeladene, spielfreudige Band zu sehen, die erfreulich oft wie in ihren neongelben
Anfangstagen klang.
Hier die Liste:
Jacques Palminger & 440Hz Trio (Literaturhaus, Frankfurt)
Element of Crime (Jahrhunderthalle, Frankfurt)
Station 17 (Schlachthof, Wiesbaden)
Die Sterne (Café Central, Weinheim)
José Gonzalez (Maifeld Derby, Mannheim)
Astroanautalis (Maifeld Derby, Mannheim)
Other Lives (Phonopop Festival, Rüsselsheim)
Okta Logue (Phonopop Festival, Rüsselsheim)
Battles (Zoom, Frankfurt)
Lars Bygden (Kulturbahnhof, Bad Homburg)
Mia (Musiktheater Rex, Bensheim)
Alt-J (Maimarkthalle, Mannheim)
Ulrich Schnauss (Das Bett, Frankfurt)
Kraftwerk (Jahrhunderthalle, Frankfurt)
erwachsene Männer mit albernen Brillen beim Boing Bum Tschak
Und sonst so?
Auch in diesem Jahr gab es wieder Konzerte, die ich gerne noch mehr gemocht
hätte. Talking to Turtles oder auch Stefan Honig sind
für mich echte Sympathieträger, aber auf ihren Konzerten gibt es immer mal
wieder Songs, auf die ich mich nur schwer konzentrieren kann. Bei Sophie
Hunger warte ich immer darauf, dass noch einmal der Zauber ihres
Konzertes auf dem Hannoveraner Bootboohook Festival von 2011 entsteht, doch
auch in diesem Jahr wirkte die Dame auf mich eine Spur zu professionell und routiniert.
Bei Public Service Broadcasting im Foyer des Mannheimer
Nationaltheaters war es eindeutig das kleine und überdies auch recht
distanzierte Publikum, das das Konzert kein großes werden ließ. Und das
Wortspiel, dass mir Die Nerven nach einer Weile auf die Nerven
gingen, obwohl ich sie doch so gerne mögen wollte, lasse ich mal aus.
Ansonsten habe ich in diesem Jahr gelernt, dass originelle Bandnamen noch
lange nicht originelle Musik bedeuten (The Allah-lahs, Foxygen, Käptn
Peng und die Tenktakel von Delphi) und dass süßen Indiemädchen mit
akustischen Gitarren und kleinen Keyboards offenbar niemand mehr sagt, dass man
erst mal ein paar interessante Songs schreiben und ein Instrument einigermaßen
erlernen sollte, bevor man sich auf eine Bühne setzt (Luísa, Valentine).
Unbeliebt mache ich mich jetzt noch kurz damit, dass ich sage, dass
ich Love A auf dem Mannheimer Maifeld Derby total langweilig und überschätzt fand.
Zum Abschluss nun noch ein Song aus dem durchwachsensten Konzert des
Jahres 2015, über das ich nach dem Besuch schrieb: „Licht und Schatten lagen
selten so dicht beieinander. Gestern gastierten The Waterboys in
der Frankfurter Batschkapp. Während todernst gemeinte Coverversionen von
"Roll Over Beethoven" und "Purple Rain" eher an eine
alternde Muckercombo auf dem Mannheimer Stadtfest erinnerten, klang "We
Will Not Be Lovers" so dicht, energisch und verzweifelt, wie ich es nie zu
hoffen gewagt hätte“. Und das sind die Konzertmomente, die ich mir für 2016
auch wieder wünsche.
Alle Fotocredits siehe Fotos; Fotos ohne Credits sind private Bilder.
Wie ich auf Lusts
gekommen bin, kann ich nicht mehr sagen. „Quelle: Internet“, ist alles, was ich
noch weiß. Und „Mouthwash“ war der erste Song, den ich von diesem Duo hörte. Es
folgte ein feines Album, von dessen Existenz so wenige Leute etwas mitbekommen
haben, dass eines von zwei in Deutschland geplanten Konzerten gar nicht erst
stattfand. Mich begeistert die Mischung aus 80er-Wave-Sound, Britpop-Euphorie
und unverschämter Eingängigkeit. In einer besseren Welt ein echter Top-10-Hit.
Hier eine
Liveversion vom Reeperbahnfestval:
02 Motorama: Red Drop
Mir nahestehende Menschen
litten im ersten Halbjahr 2015 vermutlich schwer unter meinen unablässigen
Lobpreisungen Motoramas. Totale Verblendung vermutlich, da auch mir mit etwas
zeitlicher Distanz klar wurde, dass das 2015er-Album „Poverty“ nicht an die
beiden Vorgänger heranreichen konnte. „Red Drop“ ist dennoch ein weiterer Song,
der alles beinhaltet, was ich an dieser Band liebe: den klaren, dominanten
Gitarrensound, den melancholischen Gesang, das Spannungsverhältnis von
Rastlosigkeit und Harmonie, die bewusst unperfekte Schönheit dieser Musik.
03 Other Lives: 2
Pyramides
Da streben Other
Lives schon eher nach Perfektion und betreiben ein entsprechend kalkuliertes
Songwriting. Mit Erfolg, denn meinen anfänglichen Widerwillen, das Lied zu
mögen (zu kalkuliert), habe ich inzwischen abgelegt. Dazu hat eventuell der
Auftritt der Band auf dem letzten Phonopop-Festival beigetragen, denn live klingt
das Ganze noch besser, wie man hier sehen kann:
04 Balthazar: Bunker
Uneingeschränkter
liebe ich aber Balthazar. Auch das „schwierige dritte Album“ hatte mal wieder
so viele Hits, dass meine einzige Schwierigkeit darin bestand, einen Song für
diese Zusammenstellung auszuwählen. „Nightclub“, „Decency“, „Then What“ oder „I
Looked For You“ hätten problemlos auch ihren Weg hierher finden können, „Bunker“
wurde es letztlich, da der Song die Stärken der Band voll ausspielt: den
mehrstimmigen Gesang, das Vermischen von klassischer Indie-Instrumentierung und
Synthesizer-Sounds (im Live-Arrangement um eine Violine ergänzt), die
scheinbare musikalische Leichtfüßigkeit mit ihren düsteren Untertönen. Mir
nahestehende Menschen litten im zweiten Halbjahr 2015 vermutlich schwer unter
meinen unablässigen Lobpreisungen Balthazars. Aber wenn eine Band ein
100-Minuten-Konzert spielt und ich nur bei einem Lied kurz denke, dass sie das
auch gut und gerne hätten sein lassen können, dann kann man da schon von einer
Lieblingsband sprechen.
05 Von Spar: V.S.O.P.
Das vielgelobte
Von-Spar-Album „Streetlife“ aus dem vergangenen Jahr habe ich mir erst dieses Jahr
im Spätprogramm des Mannheimer Maifeld Derbys erhören können. 10 Jahre sind
seit dem wunderbar krawalligen „Ist das noch populär?“ vergangen, und die Musik
der Band ist nicht wiederzuerkennen. 80er-Elektronik ist der rote Faden, mal
eher im Hintergrund, wie bei dem fast schon als Discohit bezeichenbaren „Chain
of Command“, mal dominierend, wie in dem verspielt-abstrakten „Hearts Fear“. „V.S.O.P.”
verbindet die beiden Pole und beginnt zugänglich wie ein Popsong, nur um sich
in seinem weiteren Verlauf zu einem Instrumentaltrack zu entwickeln, der an die
guten John-Carpenter-Soundtracks erinnert. Das war übrigens auch live ganz
toll, auch wenn den angeschickerten Partypeople des Festivals definitiv der
Abgehbums gefehlt hat. Wohl dem der hormonell gefestigt ist.
06 Mike Simonetti: The
Magician (from the motion picture “The Guest”)
Wo wir doch gerade
bei Soundtracks waren. Der an sich recht simple Horrorthriller „The Guest“ lebt
vor allem von Setdesign und Soundtrack. In „The Magician“ hört man das Böse
förmlich langsam, aber unaufhaltsam auf einen zumarschieren. Fans von Old-School-Zombies
bis „It Follws“ wissen, wovon ich rede, und Mike Simonetti weiß es auch. Ich verstehe
alle, die hier die Nase rümpfen und mit erhobener Augenbraue darauf verweisen,
dass „Drive“ jetzt auch schon ein paar Jährchen her und es mit dem 80er-Jahre-Retroschick
auch mal wieder gut ist. Mag sein. Ich habe dennoch nichts gegen diesen Nachschlag.
07 Bilderbuch: Maschin
Muss ich zu
Bilderbuch noch etwas sagen? Ich verweise einfach nur auf Linus Volkmann, der, wie so oft, Recht hat. Und wenn ich mich festlegen müsste, wäre das hier mein
Song des Jahres.
08 Francis: Horses
Kleines
Kontrastprogramm zum dick aufgetragenen Bilderbuch-Sound und der letzte Song,
der es auf die Jahrescharts geschafft hat. Francis habe ich vor Jahren mal im Offenbacher
Hafen 2 gesehen, eine schwedische Band, die ihr Ding macht und ihre Musik mit
Herzblut produziert und spielt. 2016 kommen sie wieder, mit neuem Album; ich
plane, dabei zu sein und freue mich an dieser Stelle schon mal vor.
09 Zoot Woman: Silhouette
Bei Zoot Woman
wusste ich ja jahrelang nicht so recht, was ich von ihnen halten soll. Jedes
Album enthält ein paar Überhits und viel Leerlauf. So ist es sicherlich auch
mit dem aktuellen Album „Star Climbing“, und „Silhouette“ ist nicht einmal so
ein großer Wurf wie „Grey Day“ oder „We Won’t Break“. Aber Zoot Woman haben im Frankfurter
Zoom eines der für mich nachhaltigsten Konzerte des Jahres 2015 gespielt. Große
Sounds auf kleiner Bühne, auch hier wieder gelungene 80er-Jahre-Referenzen (ja,
sorry…) und eine Setlist vom Feinsten. Gäbe es eine LiveLieblinge-CD, wären
Zoot Woman garantiert dabei; gibt es aber nicht, daher eben an dieser Stelle.
10 Erlend Øye: La prima estate
Erlend Øye habe ich
nach 2012 aus den Augen verloren, da ich ihn in diesem Jahr mit The Whitest Boy
Alive einmal zu oft als unsympathischen Großkotz auf einer Bühne erleben
musste. Bezeichnenderweise wurde dieses Projekt wohl auch kurz darauf auf Eis
gelegt und bereits 2013 entstand „La prima estate“, ein wunderbar entspanntes Stück
Sommermusik, das ich auf dem wunderbar entspannten sommerlichen Phonopop Festival
erstmal zu hören bekam. Hier konnte ich meinen Frieden mit dem Mann machen, dem
der Umzug von Berlin nach Sizilien sichtlich gut getan hat. Dass keiner der
Songs seines letzten Albums „Legao“, das ich mir nach dem positiven
Livererlebnis zugelegte, hier gelandet ist, sondern „La prima etsate“, liegt an
meiner lieben Tochter Luise, die das Video zu dem Lied zu ihrem Lieblingsvideo
erklärt hat und es mehrmals die Woche mit dem Schlachtruf „Manmi-briehlle!“ (meint:
„Mann mit Brille“) einfordert. Also dann: „Vai, vai, vai, vai“ und „Günther!
Windrad!!“ (Nein, das muss man nicht verstehen).
11 Thomas Dutronc: Allongés dans l’herbe
2015 gab es den
ersten Sommerurlaub in Frankreich seit 2011 und insofern viel schöne, neue
französische Musik. Ein Dreierpack findet sich hier wieder, und den Anfang
macht Thomas Dutroncs dynamischer Sommersong zum Thema Heiraten. Wie passend im
Jahr 2015.
12 Marc Lavoine: J’ai vue la lumière
Französischer als
Marc Lavoine geht es kaum. Bereits 2012 entstand „J’ai vue la lumière“, ein
Lied, bei dem ich, wie bei vielen Liedern Lavoines, gar nicht sagen kann, warum
es mir so gefällt. Ich vermeide bewusst das Wort Song, denn Chanson trifft es
hier eher, und Marc Lavoines Chansons werde ich vermutlich für immer mit
Autofahren bei offenem Fenster in Südfrankreich verbinden; mit Sommer, Sonne
und Sorglosigkeit.
13 Dieselle: Magic Key (version française)
Und da kann ich doch
gleich noch mal den peinlichen Lieblingssong des Jahres nachschieben.
Chartmusik, bei der ich im deutschen Kommerzradio und auf Englisch vorgetragen
vermutlich die Nase rümpfen würde. Aber wenn man den Song jeden Morgen im
Urlaub bei Croissant und Milchkaffee hört, dann ist er positiv konnotiert und
gesellt sich im Gehirn schamlos als schön zu der Musik, für die man sich nicht
zu schämen braucht.
14 Ghostpoet: X Marks the Spot
Nein, nicht nur zur
Rettung des Renommees, sondern weil mir Ghostpoets Album „Shedding Skin“
(Mercury Prize – Albums of the Year 2015, soviel zum Thema Rennomee (zwinkersmiley))
tatsächlich extrem gut gefällt. Auch hier mal wieder ein Künstler, dessen Musik
sich mir über ein Konzert erschlossen hat. „Komplett Aggressions- und
Machismo-freie HipHop-Blues-Poesie“ schreibt der SPEX-Fachmann und bringt auf
den Punkt, warum ich diese Musik mag.
15 Diagrams: Gentle
Morning Song
Zack, da ist wieder
so ein lässiger Superhit von Sam Genders alias Diagrams. Waren es 2012 „Ghost
Lit“ und „Tall Buildings“, ist es dieses Jahr „Gentle Morning Song“, bei dem man
sich fragt, wo so ein perfekt harmonischer Song herkommt. Wurde mir auch nach
zahllosem Hören nicht überdrüssig.
16 Get Well Soon: Careless Whisper
Ein weiterer Geniestreich
des Herrn Gropper. Einer der schlimmsten, schleimigsten und schmierigsten Songs
der 80er-Jahre wird von Get Well Soon als Paranoia-Pop neu interpretiert. Tempo
raus, neurotischen Gesang und düstere Melodramatik-Instrumentierung rein und
schon ist das Lied gut hörbar, und im Wissen um das schwer erträgliche Original
eben besagter Geniestreich.
17 Wanda: Bleib wo du warst
Die dürfen im Jahr
2015 natürlich auch nicht fehlen. Und bei Wanda hätte es auch noch einige
andere passende Songs gegeben: „Meine beiden Schwestern“, „Stehengelassene
Weinflaschen“, „Auseinandergehen ist schwer“ oder eben gleich direkt „Bologna“.
Da mir Wanda im vergangenen Jahr durchgegangen sind, hatte ich im Jahr 2015
gleich die große Auswahl aus zwei Alben. „Bleib wo du warst“ bringt für mich
das Faszinosum der Band auf den Punkt: handgemachte Rockmusik, die einen nicht
peinlich berührt, und alkoholgeschwängerte Mitgröhltexte, die so abstrakt bleiben,
dass einen der Verstand nicht am Mitgröhlen hindert. Ein Hype des Jahres, dessen
Teil ich gerne war (so wieder Typ, der im untenstehenden Video bei 1:05 Min. die Bühne erklimmt).
18 Deichkind: Denken Sie groß
Diese Herren hatte
ich in den letzten Jahren ja etwas abgeschrieben, nachdem nur noch die Buddel
peng machte und Offensichtliches wie die Tatsache, dass Arbeit nervt festgestellt
wurde. Aber sie haben schon recht: wenn man nach einiger Zeit mal wieder „So ´ne
Musik“ hört und diese noch dazu textlich zu alter, ironischer Hochform aufläuft,
dann kann man Deichkind auch wieder mögen.
19 Fink: Pilgrim
Neben Von Spar und Ghostpoet
meine dritte große musikalische Entdeckung des diesjährigen Maifeld Derbys. Der
aus der elektronischen Ecke stammende Herr Fink überträgt Trackstukturen in die
musikalische Ecke Folk/Blues/ Songwritertum, in der er sich heutzutage bewegt, und
lässt grandiose, dramatische Stücke, wie dieses entstehen. „From small
beginnings to big endings“ eben.
20 – Die Sonne: Kriege (live at Hamburger
Küchensessions)
Die Zusammenstellung
von 2015 endet da, wo die von 2014 begann. Ein bisher unveröffentlichtes Stück
der Wolke-Nachfolge-Band Die Sonne, das einmal mehr die grandiosen Qualitäten
von Sänger und Texter Oliver Minck offenbart. Worte und Musik kommen so harmlos
daher, konfrontieren einen Zuhörer, der wirklich zuhört, aber eigentlich mit der
Frage, ob er lieber Wutbürger oder Biedermeier sein will, ob er die Augen
lieber auf macht oder den Rolladen runter. Und bei so einer Frage kann man am
Ende des Jahres 2015 eigentlich nur schwer schlucken.
Viermal volle Punktzahl für vier sehr unterschiedliche
Filme.
An erster Stelle steht, der unisono geliebte Grand Budapest Hotel, über den ich nach dem Kinobesuch schrieb:
"Der
erste Zehn-Punkte-Film des Jahres. Schon die Eröffnung mit der verschachtelten
Erzählweise (Studentin liest Buch eines Autors, der als junger Mann einen
Hotelbesitzer getroffen hat, der ihm die Geschichte eines Concierge erzählt
hat, die dann die eigentliche Filmhandlung ist) macht Laune. Diese trägt zwar
nichts zum eigentlichen Film bei, führt einen aber ganz wundervoll in den
Kosmos des Wes Anderson ein, wo alles irgendwie bunter und comichafter ist,
skurriler und der Realität leicht entrückt. Litt ich in Andersons andere Filme
manchmal nach einiger Zeit an Ermüdung ob ihrer Skurrilität, die einem doch
sehr nach einer Kunst um der Kunst willen vorkam, oder ob des Mangels einer
interessanten Geschichte, funktioniert Grand Budapest Hotel über seine
komplette Laufzeit, da er immer neue Wendungen und immer neue Charaktere
auffährt, so dass Langeweile gar nicht aufkommen kann. Und auch die Fülle an
Details ist dieses Mal in genau dem richtigen Maß, dass man nie das Gefühl
bekommt, jetzt sei es aber auch mal gut mit dem Nonsens. Im Gegenteil: ich
konnte mich gar nicht satt sehen an den Details im Hintergrund. Die Riege der
Hollywood-Größen, die man in schrägen Moden und Makeup erst mal erkennen
musste, trug auch zu dem nachhaltigen Spaß bei, ebenso wie schließlich die
Tatsache, dass Andersons Film eigentlich eine Liebeserklärung an das alte,
verlorene Europa des beginnenden 20. Jahrhunderts ist, mit all seinen
Absurditäten und Schwächen. Vielleicht ist es ja dieses Herzblut, das man hier
spüren konnte, was den Film für mich zu dem gelungensten dieses Regisseurs
macht." (17.3.2014)
Auch der zweite Konsensfilm des Jahres, Boyhood, erhält volle Punktzahl von mir. Allein das Konzept des Films,
eine Kindheit und Jugend über mehr als ein Jahrzehnt zu begleiten und daraus
einen Film von etwa drei Stunden Länge zu drehen, verdient Respekt. Dass der Film auch noch wunderbar funktioniert, liegt am guten Händchen, das die Macher beim Cast des Films hatten. Und allein Patricia Arquette im Zeitraffer altern zu sehen, ist faszinierend. Doch letztlich ist es wie bei jedem anderen sehr guten Film, es ist die Story, die funktioniert und in ihrer Umsetztung fasziniert, die (zumindest für die westliche Welt) universale Geschichte eines Heranwachsenden, der seine Höhen und Tiefen erlebt, unaufdringlich und mit viel Menschlichkeit erzählt.
Um menschliche Abgründe geht es in Gone Girl. Ich kenne die Buchvorlage nicht, insofern kann ich nicht sagen, ob es sich hier um eine gelungene Verfilmung handelt, ein gelungener Film ist Gone Girl aber allemal. Die Geschichte von der verschwundenen Ehefrau, deren Verschwinden ihrem Gatten angelastet wird, ist spannend, voller Wendungen und fährt ein hohes Tempo. Das funktioniert schon als Thrillergeschichte ziemlich gut, wird dann aber richtig interessant durch den stets unterschwellig vorhandenen gesellschaftlichen Kommentar zum Thema Geschlechterrollen und ihre mediale Darstellung. Dieser Kommentar ist bitter, wird aber so beiläufig und süffisant sarkastisch serviert, dass der Film vor allem Spaß macht, auch wenn man sich manchmal schon ein wenig für sein Amüsement schämt. Erwähnte ich schon die Darsteller? Dem allgemeinen Lobgesang auf Rosamund Pike schließe ich mich an, muss aber vor allem auch Mr All-Amercian-Guy Ben Affleck loben, der seine typische Klischeerolle spielt und dem man damit länger seine Unschuld glaubt, als man sie vermutlich einem ernsthafteren Charaktermimen abgenommen hätte.
Der vierte Film ohne Abstriche ist ein weniger offensichtlicher: Oktober, Novembererzählt die Geschichte der Rückkehr einer erfolgreichen Schauspielerin zu ihrem kranken Vater und ihrer Schwester, die in Österreich irgendwo auf dem Land einen Gasthof betreiben. Regisseur Götz Spielmann war mir von seinem vorherigen Film "Revanche" als versierter Beobachter von Zwischentönen im menschlichen Miteinander aufgefallen, und in "Oktober, November" gelingt ihm ein intensives Familienporträt, in dem emotionale Verbundenheiten und unüberwundene Kränkungen nebeneinander stehen und stets im Handeln der Figuren durchschimmern. Der bevorstehende Tod des Vaters verleiht der Konstellation Dynamik, treibt die Handlung voran und verleiht dem Film zudem eine weitere inhaltliche Facette. Ich war beeindruckt, fühlte mich als Zuschauer ernst genommen und ging mit vielen Gedanken im Kopf nach Hause. Mehr kann man vom sogenannten Arthouse.Kino kaum erwarten.
9/10 - die sehr guten Filme
Und gleich noch ein Österreicher eröffnet die Riege der sehr guten Filme des Jahres 2014: Das finstere Tal, an sich ein Western, über den ich nach dem Kinobesuch schrieb:
"Da
ist er, mein erster Lieblingsfilm des Jahres 2014. Und ich wiederhole mich
gerne und sage: die besten deutschsprachigen Filme kommen aus Österreich.
Andreas Prochaskas „Das finstere Tal“ ist ein Italo-Western in den
österreichischen Alpen, eine an sich simple, aber nachdrücklich erzählte und
inszenierte Rachegeschichte. Ganz klar Style over Substance, aber was für ein
Style! Eine Kamera, die in einer feindlichen, aber faszinierenden Landschaft
schwelgt und lange auf ungewöhnlichen Gesichtern ruht. Viele nachhaltige
Bilder, Einstellungen und Szenen; der ganze Film ist ein ästhetisches Fest, was
allerdings auch ästhetisierte Hässlichkeit und Gewalt einschließt. Wer so was
mag, wie ich, kommt voll auf seine Kosten, zumal der Film auch zahlreiche
Referenzen an das erwähnte Genre des Italo-Western enthält. Allein vor deren
teilweise extremer Gewalt und oft nihilistischer Weltsicht schreckt Regisseur
Prochaska ein wenig zurück. Eigentlich gut so, denn im Jahr 2014 ist der Genrefilm raus
aus der Schmuddelecke des Bahnhofskinos, und Tabubrüche haben nur noch die ganz
Aufmerksamkeitsgeilen nötig (schöne Grüße an Lars von Trier).Andreas Prochaska jedenfalls hat sie nicht
nötig. Er hat einfach einen wunderbaren Film gemacht, dem ich viele, viele
Zuschauer wünsche und den ich nur in höchsten Tönen loben kann." (11.2.2014)
Nun könnte ich natürlich zum Diss gegen den deutschen Film ausholen - Schweiger, Schweighöfer, Hallervorden - doch stattdessen lobe ich einen Film, von dem ich mir im Vorfeld nicht viel versprochen hatte. Der Trailer von Im Labyrinth des Schweigens sah nach einem dem Zeitgeist entsprechenden "Schlimm war's bei den Nazis"-Film aus, für den ein smarter Junganwalt als Figur geschaffen werden musste, damit die Geschichte um die verdrängte Nazischuld im Deutschland der 1950er-Jahre gefällig aufgepeppt und verdaulich erzählt werden kann. Mea culpa. Die Figur des von Alexander Fehling verkörperten Sympathieträgers dient naürlich der Dramatisierung des komplexen Themas, doch macht es sich der Film nicht leicht. Weder kann Fehling sich alleine behaupten, sondern ist auf Mitarbeiter angewiesen, noch kann er seine hochgesteckten Ziele (Ergreifung des KZ-Arztes Josef Mengele) erreichen. Immer wieder werden ihm Steine in den Weg gelegt, und am Ende muss er erkennen, dass er die wahren Schuldigen nicht ihrer gerechten Strafe zuführen kann, sondern in erster Linie einen Prozess gegen das Vergessen einer verdrängten Schuld führt. Insofern macht der Film im Kern schon Hintergründe, Probleme und Kontext der Auschwitzprozesse klar. Deren realer Protagonist Fritz Bauer taucht im Film überdies auch in der zurückhaltenden und nuancierten Darstellung durch Gert Voss auf. Spannend und doch nicht reißerisch, engagiert und doch differenziert; "Im Labyrinth des Schweigens" ist nach langer Zeit mal wieder ein intelligenter Film über deutsche Geschichte, dessen zentrale Botschaften nicht nur "Hitler war's" und "War schon schlimm" sind.
Einen ganz anderen Blick auf den Zweiten Weltkrieg wirft Heinz Emigholz' The Airstrip – Aufbruch in die Moderne, augenscheinlich erst einmal ein Film über Architektur, bei dem vor allem Emigholz' ungewöhnlicher filmischer Stil auffällt, in dem Gebäude nie mit Kamerabewegung, sondern, ähnlich wie bei einer Diashow, in aufeinanderfolgenden, statischen Bildern festgehalten werden. Der Effekt ist beeindruckend, da die Bewegung in den einzelnen Bidlern stets nur durch die Umwelt des Gebäudes (vorbei laufende Menschen, durch das Bild fliegende Vögel, im Wind rauschende Bäume) entsteht. Doch auch wenn die Architektur im Vordergrund steht, geht es in Emigholz' Film eigentlich um das 20. Jahrhundert. "Gib einem lächerlichen Mann eine Armee und er ist nicht mehr lächerlich", sinniert die Offstimme zu Beginn, und der rote Faden des Films ist der Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkrieges. Grenzenloses Selbstvertrauen und Fortschrittsglaube, irrsinnige Selbstüberschätzung und ungekannte Zerstörungen prägen dieses Jahrhundert und haben ihren Ausdruck in seiner Architektur gefunden. So spannt sich der Bogen vom leerstehenden, protzigen Jugendstilkaufhaus in Görlitz zum postmodernen Einkaufszentrum, dessen Verfall bereits wenige Jahre nach seiner Errichtung einsetzt und das außerhalb des Films auch im Musikvideo zum Kreidler-Track "Sun" bewundert werden kann. Auch wenn man nur im Film einen ganz konkreten Zusammenhang zum Zweiten Weltkrieg erfährt.
Eine ganz andere Herangehensweise an das Zhema findet sich in Hayao Miyazakis Wenn der Wind sich hebt, der die Geschichte des Konstrukteurs der kleinen japanischen Kamikazeflugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg erzählt. Miyazakis Film ist vor allem eine (weitere) Liebeserklärung ans Fliegen und der Ausdruck seiner Bewunderung für einen von einer Idee entfachten Erfinder und Konstrukteur. Wie in seinen anderen Filmen findet er dafür wunderbare Bilder und erinnert den Zuschauer daran, dass Animationsfilm nicht zwangsläufig knallbunt, hektisch und voller sprechender Tiere sein müssen.
Ein weiterer japanischer Film, der mich im Jahr 2014 sehr beeindruckt hat, war Like
Father, Like Son, die Geschichte zweier vertauschter Babys, deren Eltern von der Verwechslung erst erfahren, als die beiden Jungen sechs Jahre alt sind. Der Film schildert das Kennenlernen der beiden sehr unterschiedlichen Familien und ihr Umgehen mit der Situation, wobei vor allem der traditionsbewusste und erfolgreiche Geschäftsmann Ryoto, für den die Blutsverwandtschaft entscheidend ist, einen Erkenntnisprozess durchläuft. "Like Father, Like Son" ist ein Film, bei dem man nicht weiß, wie melodramatisch und rührselig er hätte werden können, wenn sich ein großes Hollywoodstudio des Themas angenommen hätte. Hirokazu Koreeda geht das Thema erfreulich unaufgeregt an. Er schildert den Alltag mit seinen Höhen und Tiefen, Momente der vorsichtigen Annäherung, aber auch der Enttäuschung,. Es ist ein Film der leisen Töne, dessen größte Stärke die Sympathie des Regisseurs für alle seine Figuren ist. Der erfolgreiche Geschäftsmann ist kein gefühlloses Monster, sein Gegenpart, der Elektrohändler Yudai ist zwar ein schluffiger Sympathieträger, der allerdings gerade seiner Ehefrau mit seinem Hang zu Chaos und Slackertum auch schon mal gehörig auf die Nerven geht. Nach "Boyhood" auf jedem Fall der schönste Film zum Thema Eltern und Kinder des Jahres 2014.
Und schließlich noch zweimal Hollywood:
Christopher Nolans Interstellar ist ein optisches Kinovergnügen der schönesten Sorte. Eine Space-Opera, die keines 3Ds bedarf, um einen optisch umzuhauen. Dass es Nolan nicht bei Schauwerten belässt, sondern sich gerade zu Beginn des Films sehr viel Zeit für Charakterentwicklung nimmt, lässt den Zuschauer auch gebannt der Geschichte folgen. Die entwickelt sich ab einem gewissen Punkt zwar etwas in Richtung Physiker-Nerdtum, aber da heißt es für den Geisteswissenschaftler einfach mal das Hirn abschalten und die Bilder genießen. "Kino, dafür werden Filme gemacht" - dieser alte Werbespruch passt hier zu hundert Prozent.
Und schließlich die Abschiedsvorstellung von Philip Seymour Hoffman, Anton Corbijns A Most Wanted Man, ein Spionagethriller, in dem kein schillernder James Bond Superschurken besiegt und Häschen vernascht, sondern ein soziophobes menschliches Wrack Geheimdienstarbeit gegen die Mühlen der Bürokratie verrichtet. Die Spannung bezieht der Film nicht aus seiner Action, sondern aus der Handlung; Spannungskino für Erwachsene gewissermaßen, getragen von einem genialen Hauptdarsteller.
8/10 - die guten Filme
Ich beginne mal mit den Filmen, zu denen ich direkt nach dem Kinobesuch etwas geschrieben hatte:
The Secret
Life of Walter Mitty
"Naiv,
schlicht, oberflächlich - so urteilt die Kritik über "The Secret Life od
Walter Mitty". Von mir aus. Ich fand Ben Stillers Film angenehm
warmherzige Hollywood-Unterhaltung mit sympathischer Botschaft, guten
Darstellern, fantastischen Landschaftsaufnahmen und exquisitem Soundtrack. Und
mehr braucht es ja manchmal gar nicht.." (13.1.2014)
American Hustle
"Nominiert
für zehn Oscars! Und doch fragt sich der erfahrene Gangster- und
Gaunerfilmgucker in der ersten halben Stunde, ob er diese Art von Geschichte
nicht schon ein paar Mal gesehen hat: ein Betrügerpärchen gerät in die Fänge
eines ehrgeizigen FBI-Agenten, der mit ihrer Hilfe ein paar große Fische fangen
will. Gut, das Ganze spielt im schönsten 70er-Jahre-Ambiente und beginnt mit
Christian Bale, dem die Wampe über die Hose hängt und der sich kompliziert sein
Toupet befestigt, aber wäre es bei solchen optischen Scherzen geblieben, hätte
„Amercan Hustle“ auf über zwei Stunden Laufzeit eine zähe Nummer werden können.
Zum Glück gewinnt die Geschichte irgendwann an Fahrt. Sie nimmt immer neue
Wendungen und die Betrügereien werden immer vertrackter, wundervolle
Nebenfiguren betreten den Schauplatz, allen voran Jennifer Lawrence als Ehefrau
Christian Bales zwischen umwerfender Sexiness, trotteligem Auftreten und
psychotischer Unberechenbarkeit (“She was the Picasso of passive-aggressive
karate“). Regisseur David O. Russell gelingt es dabei gekonnt, das richtige Maß
an Skurrilität und Ernsthaftigkeit zu wahren, eine Qualität die seinen auf die
Dauer recht anstrengenden früheren Filmen wie “Flirting With Disaster“ und „I
Heart Huckabees“ noch fehlte. So bleibt man als Zuschauer stets gefesselt von
der Geschichte und kann sich doch immer mal wieder über kleinere Absurditäten
und Überzeichnungen freuen. Und so wollte auch in der letzten halben Stunde das
Grinsen gar nicht mehr aus meinem Gesicht weichen. Allerdings empfehle ich, den
Film im Original zu sehen. Die deutsche Synchronisation ist zwar nicht
schlecht, hinkt aber in Tempo und Treffsicherheit der Wortwahl dem Original
mehrfach hinterher. 10 Oscars? Mal schauen, wie viele es am Ende werden. Ein
sehenswerter Film ist „American Hustle“ für Freunde gehobener
Hollywood-Unterhaltung allemal." (26.2.2014)
Satansbraten
"Ein
Künstlerdrama über einen erfolglosen und von Geldsorgen geplagten Dichter; ein
Ehedrama; eine Parabel über den Faschismus – das klingt nach deutschem
Problemfilm, das klingt nach schwerer Kost. Doch „Satansbraten“ ist in erster
Linie gepflegter Irrsinn. Zwar werden all die genannten Themen verhandelt – und
mit der Faschismuswarnung meint es Autor und Regisseur Fassbinder wohl auch
ganz ernst – doch werden sie dies mit den Mitteln der überdrehten Komödie, der
Farce und der Satire. Das funktioniert über weite Strecken auch recht gut. Kurt
Raab gibt den unsympathischen Dichter und Herrenmenschen Walter Kranz mit
beeindruckender Hingabe und stets aufgedrehtem Lautstärkepegel. Kranz verachtet
alles Profane und alle Kleinbürger in seiner Umwelt, ist aber stets darauf aus,
an Geld zu kommen, wobei er auch nicht davor zurückschreckt, seinen Eltern den
letzten Spargroschen abzuluchsen. Er schreibt nicht, sondern steigert sich in
den Wahn, Stefan George zu sein und ganz für die Kunst zu leben. Sein Publikum
bezahlt er, die erhabene Aura der Lesungen bei Kerzenschein wird jäh
unterbrochen, wenn Mutti das Licht anschaltet und mit den Schnittchen kommt.
Fassbinder holt hier zum Rundumschlag gegen ein bürgerliches Kunstverständnis
aus, in dem die Kunst erhaben und der Lebensrealität entrückt ist. Die „L’art
pour l’art“ wird der Lächerlichkeit preisgegeben, und der Zuschauer hat – bei
entsprechender Neigung –seinen Spaß.
Wie viel von Fassbinder selbst in Walter Kranz steckt, ist mir dabei eigentlich
egal. Der Film funktioniert auch dann ganz wunderbar, wenn man nichts über
Fassbinders Persönlichkeit weiß. Zwar wird der Spaß auf zwei Stunden Laufzeit
ausgedehnt bisweilen etwas anstrengend, doch ist der Film mit seinem
Ideenreichtum und seiner Radikalität in Zeiten stromlinienförmigen Konsenskinos
bis in den Arthouse-Bereich eine brachiale und anarchistische Wohltat.
Abschließend
einmal mehr ein großes Lob an das Filmmuseum, das den Film in einer
ordentlichen 35mm-Kopie zeigte, so dass man ihn in wohliger Kinoatmosphäre
genießen konnte." (12.3.2014)
Love Steak
"Es
ist schon eine Ironie, dass das Publikum in „Love Steaks“, den die
Kinoillustrierte Cinema als „junges Kino“ und „mitreißende Romanze“, ja sogar
als „die Zukunft des deutschen Films“ bezeichnet, bis auf vielleicht zwei
Personen aus bildungsbürgerlichen Ü-40ern besteht.Die örtlichen Studenten hatten sich wohl
schon am Abend zuvor in dem sich inhaltlich eher an ein arriviertes Publikum
richtenden „Her“ von Spike Jonze verausgabt. Da hätten die Kinogänger
vermutlich im Schnitt mehr Spaß gehabt, wenn sie den jeweils anderen Film
besucht hätten.
Regisseur
Jakob Lass sieht seinen Film jedenfalls als ersten „Fogma“-Film, womit er
durchaus ernsthaft auf die dänischen Dogma-Filme Bezug nimmt, deren Credo „kein
künstliches Licht, kein Make-Up, authentische Schauplätze“ er übernimmt. Ein
echtes Drehbuch gab es nach seiner Aussage wohl auch nicht, und die Nebenrollen
sind allesamt mit Laiendarstellern besetzt; Hotelangestellte, die sich selbst
spielen. Das „F“ steht laut Lass für Freiheit, Flow und Fuck. Na ja. Man kann
sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Fogma- wie schon der Dogma-Anspruch
nicht zuletzt auch ein geschickter Marketing-Schachzug für Filme mit extrem
kleinem Budget ist. Nur eben auf Deutsch, jung und very Berlin.
Das
soll niemanden abschrecken, denn je länger der Film dauerte, desto mehr wurde
ich in seinen Sog gezogen. Die Liebesgeschichte zwischen dem schüchternen
Physiotherapeuten Clemens und der aufsässigen Kochazubine Lara funktioniert
nicht nur als romantischen Komödie der besonderen Art, sondern ist zugleich
auch realistisches Alkoholikerdrama und zwischen den Zeilen ein Blick aufKommunikations- und Hierarchiestrukturen der
heutigen Arbeitswelt. Dies alles entfaltet sich nach und nach und erfordert,
dass man sich auf Schnitte einlässt, die andernorts als Anschlussfehler geltenwürden, dass man hinnimmt, dass einzelne
Sätze der Darsteller auch mal vernuschelt werden und, was für mich am
schwersten war, die Eitelkeiten des Jung-Regisseurs schluckt. Denn bei aller
angeblichen Authentizität gibt es genug artifizielle Mätzchen, die den
Gestaltungswillen einer Hand im Hintergrund erkennbar machen. Kurze
Soundtrackeinspieler, die Emotionen erzeugen oder untermalen sollen; häufige
Schnitte, die Szenen zum Zweck der Dramaturgie straffen - an sich alles Dinge,
die der Authentizitätsidee des Films widersprechen. Andererseits ist die
Mischung aus Humor und Ernsthaftigkeit, Ironie und Beklemmung so gelungen und
Lana Cooper und Franz Rogowski als Lara und Clemens so glaubhaft und
liebenswert, dass man das alles vergessen und den Film einfach nur lieb haben
kann. Man muss ja nicht immer gleich Sensationen wittern und zum Superlativ
greifen. Man kann den Film einfach nur gut finden und hoffen, dass Jakob Lass
nicht zum neuen Lars von Trier wird. Und außerdem sollte man nie vergessen: der
Fuchs schläft nicht, er schlummert nur." (1.4.2014)
Non-Stop
"Ein
Film getreu dem Motto der Videofreunde: Video rein - Alltag raus. Nur eben im Kino. Liam Neeson
spielt einen vom Leben gebeutelten Air-Marshall, der auf einem
Transatlantikflug mysteriöse Textnachrichten erhält, in denen ein Unbekannter
150 Millionen Dollar fordert, da er ansonsten alle 20 Minuten eine Person im
Flugzeug umbringen wird. Tatsächlich gibt es am Ende der ersten Frist einen
Toten, und irgendwie sind alle verdächtig, inklusive Neeson selbst. „Non-Stop“
ist bestes Spannungskino. Das Tempo ist hoch, die klaustrophobische Enge des
Raumes und die Anspannung von Air-Marshall und Bordpersonal übertragen sich auf
den Zuschauer. Action gibt es auch, aber nicht in dem Maße, wie man in all den
Berichten zu dem Film lesen kann, und das ist auch gut so, denn über einen
langen Zeitraum bezieht der Film seine Spannung nicht aus Faustkampf und
Ballerei, sondern in erster Linie aus der Story und dem exzellenten Spiel der
Akteure, bei denen man nie weiß, ob ihnen zu trauen ist oder nicht. Julianne
Moore als undurchsichtige Sitznachbarin des Marshalls ist einmal mehr
fantastisch, Michelle Dockery (bekannt als Mary Crawley aus Downton Abbey) hat
als Flugbegleiterin einen erfreulich großen Part und füllt ihn mit gewohnt
nuanciertem Spiel, und Liam Neeson spielt eben die Rolle, die in „Taken“ und
„Unknown Identity“ auch schon ganz wunderbar funktioniert hat. Dass die
Auflösung letztlich nur enttäuschen kann, war anzunehmen. Je größer das Rätsel,
desto größer die Erwartungen und desto schwieriger ein befriedigender Schluss.
Egal, am Ende knallt es ordentlich und das kleine Mädchen stirbt nicht – das
ist überraschungsfrei, aber auch nicht schlimm, denn zuvor wurde man 90 Minuten
lang bestens unterhalten." (9.4.2014)
Die
zwei Gesichter des Januar
"Gepflegtes
Spannungskino bietet das Regie-Debüt des „Drive“-Autors Hossein Amini. Wer
genauer hinschaut, bekommt zudem ein Charakterdrama um zwei nur scheinbar
unterschiedliche Männer geboten. Dies deutet der Titel schon an, denn immerhin
hat der Monat Januar seinen Namen vom zweigesichtigen Janus aus der
griechischen Mythologie, und die von Oscar Isaac und Viggo Mortensen grandios
verkörperten Figuren, deren Schicksal durch einen dummen Zufall und durch die
Liebe zu derselben Frau aneinander gekettet wird, machen den Film erst so
richtig interessant. Wem das zu anstrengend ist, der kann sich an den
exzellenten Schauplätzen des Films, Griechenland, Kreta und Istanbul, und das alles
auch noch im stimmigen Retrolook des Jahres 1962, erfreuen. Ein mit Sorgfalt
gemachter, unaufgeregter Film mit einem intelligenten Drehbuch, der es zwar
nicht, wie einem die Werbung weismachen will, mit dem ebenfalls auf Patricia
Highsmith zurückgehenden „talentierten Mr. Ripley“ aufnehmen kann, der aus der
momentanen Flut knalliger, aber sinnentleerter Hollywoodfilme jedoch angenehm
heraussticht." (4.6.2014)
Sinnentleerte Hollywoodfilme? Irgendwie unfair, wenn ich jetzt so sehe, wie stark mein Filmjahr 2014 von US-Produktionen dominiert wurde. Und zwei kommen noch: Nightcrawler, ein fieser Film, in dem ein gespenstischer Jake Gyllenhaal seinen American Dream verfolgt, erfolgreicher Sensationsreporter zu werden. Ein bittere Gesellschafts- und Mediensatire, in der Gyllenhaals emotionslose, ja fast schon autistisch wirkende Figur, die Verlogenheit einer auf Informationsfreiheit pochenden, aber nur Kohle und Karriere im Sinn habenden Journalistengattung entlarvt. Dass dies nicht mit erhobenen Zeigefinger, sondern mit Satire und Sarkasmus passiert, macht den Film umso nachhaltiger.
Ich kann aber auch anders. Clint Eastwoods Musical-Verfilnung Jersey Boys gut finden zum Beispiel kann ich auch. Schnörkelloses Hollywoodkino zum Eintauchen und gut finden, an das ich völlig unvorbelastet von Story, Musik und Musicalvorlage geriet und das mir zwei Stunden unbeschwerte Kinounterhaltung bescherte. Punkt.
Unbeschwert lustig fand ich auch die deutsche Komödie Wir sind die Neuen und den französischen Erfolgsfilm M. Claude und seine Töchter. "Klischee", "vorhersehbar", "Probleme herunterspielend" - jaja, meinetwegen. Ich hatte meinen Spaß.
Wie übrigens auch in Die Zeit der Kannibalen, der nun wieder offensichtlicher meinem "Beuteschema" entsprach: neurotische Finazhaie, die in der Abgeschiedenheit ihrer Luxushotels plötzlich erleben müssen, wie die Einschläge näher kommen - das ist doch genau mein Ding. Erfreulich bösartig, erfreulich konsequent am Ende und in den beiden männlichen Hauptrollen wunderbar überzogen gespielt (endlich mal wieder eine schöne Rolle für den großen Devid Striesow). Ein zugegebenermaßen sehr deutscher Film, aber ich habe ja an sich nichts gegen deutsches Kino, solange ich von den Schweigers und Didi Hallervorden verschont bleibe.
Und wer die Kapitalismuskritik aus einem anderen Blickwinkel haben will, dem empfehle ich abschließend den Dokumentarfilm Frohes Schaffen, der fundiert, plausibel und unterhaltsam nachweist, dass sich harte Arbeit nicht unbedingt lohnt und der protestantische Arbeitsethos doch ein großer Mumpitz ist.
Wie wahr.
Und wie es eigentlich auf dem Fantasy Filmfest 2014 war, erzähle ich dann demnächst mal, wenn mich der Schaffensdrang wieder überkommt. Kann also dauern.