Dienstag, 3. Januar 2012

Das war 2011 - Die Bücher

Lesen ist mein Luxus. Lesen findet vor allem in den Ferien statt, wenn man mal nichts lesen muss, sondern etwas lesen darf. Um so schöner, dass es auch in diesem Jahr wieder einige erinnerungswürdige Bücher gab. Hier sind die besten:


Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen

Ein Klassiker, der allerdings noch nicht kanonisiert wurde. Irmgard Keun schildert in Ich-Perspektive die Geschichte von Doris, einer jungen Frau, die „ein Glanz“ sein will und Arbeit und ein bürgerliches Leben verabscheut. Konkret verortet in den 1930er-Jahren ist die Thematik heute so aktuell wie damals: der Wunsch im Mittelpunkt zu stehen, anders zu sein als die anderen und kein „normales Leben“ führen zu müssen. Die Parallelen zu DSDS oder Germany’s Next Topmodel sind offensichtlich. Literarisch geht’s ein wenig wie in Schnitzlers Leutnant Gustl zu, wobei der Leser hier mit ungefilterten Tagebucheinträgen und nicht mit ungefilterten Gedanken konfrontiert wird. Sprachlich muss man sich hier erst einfinden, aber wenn man dazu bereit ist, wird man mit einer frischen und im besten Sinne originellen Leseerfahrung belohnt.

Die Dreiteilung des Buches macht Sinn, wobei mich jedoch der zweite Teil, der ein weiteres Mal das pulsierende Berlin der Weimarer Zeit beschwört, nicht völlig überzeugt hat. Das kann man der Dame Keun natürlich nicht anlasten, da sich das Klischee der Golden Twenties ja erst über die Jahre verfestigt hat und die Autorin als Zeitzeugin schreibt. Besser fand ich jedoch Teil eins, in dem die Kleinstadt-Intrigen und Lästereien, besonders am Provinztheater, an dem Doris als Komparsin anheuert, im Gedächtnis bleiben. Auch der letzte Teil, der einen möglichen Ausweg andeutet und Doris als facettenreichere Person entwickelt, ist brillant, hängt über all der Hoffnung auf eine bessere Wendung doch immer das Damoklesschwert der Katastrophe, die am Ende zwar in ihrer ganz großen Wucht ausbleibt, den Leser aber dennoch ernüchtert zurücklässt.

Ein ganz großes Buch von einer hochinteressanten Autorin.


Markus Berges: Ein langer Brief an September Nowak.

Hohe Erwartungen, alle erfüllt! Erdmöbel-Sänger Markus Berges versetzt sich in seinem Roman-Debüt in die Gemütslage eines 19-jährigen Mädchens und umschifft die Klippen des Peinlich-Berührtseins beim Leser. Erzählt wird die Reise- und Entwicklungsgeschichte einer naiven Prinzessin, deren Prinzessinnen-Traum schon zu Beginn zerbricht (geniale Grundidee: die falsche Identität der Brieffreundin, die schon zu Beginn geklärt wird). Es folgen geschlossene Kapitel an verschiedenen Schauplätzen und mit verschiedenem Personal, eher ein Auf und Ab der Gefühle als eine zielgerichtete Entwicklungsgeschichte; keine Reise mit klarem Ziel und klarer Erkenntnis. Die rückblickende Sehnsucht der Hauptfigur beim Gedanken an diese Reise bleibt ein diffuses Gefühl. Paradoxerweise ist Berges damit näher am wahren Leben als jede hollywoodtaugliche gerade Storyline.

Sympathisch sind auch die Verweise auf die Romantik und auf E.T.A. Hoffmann. Der Einbruch des Fantastischen in die reale Welt findet sich auch in Berges’ Roman, wobei der „magische Realismus“ nur einmal etwas über das Ziel hinaus schießt, wenn Hauptfigur Kati im Rahmen einer alkoholgeschwängerten Hypnoseshow Früchte aus den Armen wachsen. Da hat mir das Punschgelage in Hoffmanns „goldnem Topf“ mehr zugesagt. Persönlich fühlte ich mich dem Buch natürlich auch durch die Orte nah. Die spanische Grenzstadt Port Bou ist ein Schauplatz – gelesen habe ich das Buch 30km entfernt in St Cyprien, und der Epilog spielt gar in Darmstadt.


Jörg Fündling: Sulla

Ach ja. Solche Bücher hätte es schon während meines Studiums geben sollen. Kenntnis- und faktenreich, aber lesbar, zielgerichtet und – man glaubt es kaum – amüsant geschrieben. Ich musste doch wirklich einige Male über Formulierungen, Anekdoten oder Absurditäten laut lachen. Und gleichzeitig ist das Buch komplett seriös und vermittelt in seiner Gänze nicht nur einen Eindruck von der Lebensgeschichte Sullas, sondern vor allem von der Mentalität, vom Alltagsleben und vom Denken in der Römischen Republik. Ein echter Genuss, der bei mir einige Lücken geschlossen, vorhandenes Wissen vertieft und diverse Denkanstöße gegeben hat.


Valerio Varesi: Die Schatten von Montelupo

Commissario Soneri zum zweiten. Was mir schon am ersten Roman (Der Nebelfluss) gefiel, setzt sich in diesem Buch fort. Varesi erspart uns Ermittlungsarbeit à la Derrick und setzt stattdessen mehr auf Charaktere und Orte, um eine Geschichte zu erzählen, die über den Krimi hinausgeht. Er löst damit das postmoderne Diktum Leslie Fiedlers „Cross the border, close the gap“, also die Verwendung des Genres, der angeblichen Low Culture, um literarische Gedanken zu formulieren, mustergültig ein. Thema ist dieses Mal das Einbrechen der modernen Welt in dörfliche Traditionen und Strukturen. Die Globalisierung macht auch vor dem Heimatort des Commissario nicht halt: zwei der örtlichen Granden, die, wie sich zeigt, das Geld der Dorfbewohner mit Börsenspekulationen verzockt haben, verschwinden bzw. sterben. Der Fall löst sich zwar nicht ganz von selbst, aber das Unglück kann der Commissario nicht aufhalten. Die Geschichte wird von einer fatalistischen Haltung (der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten) und einem recht negativen Menschenbild (die Dorfbewohner sind gierig) geprägt. Damit ist das Buch alles andere als eine leichte Sommerlektüre, enfaltet aber umso mehr eine dramatische Wucht, die beeindruckt. Entsprechend düster ist die Atmosphäre: die Berge im November, es ist neblig, wird früh dunkel und die Tage werden im Verlauf der Handlung immer kürzer. Jahreszeit und Wetter sind sicherlich nicht zufällig gewählt, sondern unterstreichen die Geschichte vom Niedergang. Hervorzuheben ist vor allem die Darstellung des Waldes, die mich manchmal an Tiecks „Runenberg“ erinnert hat – ein größeres Kompliment kann ich einem Buch kaum machen.

Vorwerfen hingegen könnte man Varesi, dass Geschichte, Personal und Atmosphäre schon sehr stark an den „Nebelfluss“ erinnern, so dass man mitunter den Eindruck gewinnt, der Autor sei sein eigener Epigone geworden. Doch so schlimm wiegt dieser Vorwurf nicht, denn ich habe Lust auf Buch Nummer 3 bekommen. Vielleicht spielt das ja mal im August an einem sonnigen Strand.


Christopher Priest: A Dream Of Wessex

Wer hätte es gedacht, dass ich Christopher Priests 70er-Jahre-SciFi noch mal irgendwann zu Ende bringe. Angefangen im entspannten Schwarzwald-Urlaub 2010 lag das Buch neun Monate so gut wie ungelesen auf dem Nachtisch. Zu anstrengend, zu unübersichtlich, zu klein gedruckt. Doch nach einem Drittel Exposition (hier hatte ich aufgehört zu lesen) fügen sich die einzelnen Kapitel zusammen und es wird klar, warum Wessex plötzlich eine Insel ist, auf der die Sonne scheint und die Menschen sonnigen Sommerurlaub machen.

Als SciFi ist das Buch stark in seiner Entstehungszeit (1970er, Ölkrise, Kalter Krieg) verhaftet, weshalb es wohl keine Neuauflage erfahren wird. Die Handlung: in der nahen Zukunft (= den 1980er-Jahren) arbeitet eine Gruppe von Geisteswissenschaftlern in einer Parallelwelt, die sie mittels Gedankenprojektion erschaffen haben, an Lösung gesellschaftlicher Probleme ihrer Realität. Zumindest scheinbar, denn de facto ist die Projektion für manche der Teilnehmer ein bequemes Paralleluniversum geworden, in das sie aus ihrem eigenen tristen Leben nur allzu gerne fliehen. Einem der Hauptcharaktere ist das schon so weit gelungen, dass es den anderen nicht mehr möglich ist, ihn in die reale Welt zurück zu holen. Probleme entstehen in dem Moment, als die Geldgeber des Experiments einen Wissenschaftler in das eingespielte Team setzen, der das ganze Unterfangen effektiver gestalten soll und der zugleich eine persönliche Rechnung mit einer der Teilnehmerinnen offen hat.

Priests Buch ist ein Mindfuck im besten Sinne. Auch wenn die thematisierten gesellschaftlichen Probleme sehr die 1970er-Jahre widerspiegeln, ist das „What if“ der Handlung reizvoll. Wie in „The Separation“ gelingt es Priest eine überzeugenden Parallelwelt zu konstruieren, die Vertrautes und Fremdes genau im richtigen Maße mischt. Die Beschreibung des Badeortes Dorchester bleibt im Gedächtnis (vor allem, wenn man das öde Nest im Original schon mal besucht hat), die triste Dystopia-Realität der imaginierten 1980er auch. Im letzten Drittel, als eine weitere Projektionsebene innerhalb der Projektion geöffnet wird, erinnert das Buch gar an die Story des wesentlich jüngeren Films „Inception“.

Da sieht man dem Autor ein paar holprige Dialoge im Zwischenmenschlichen ebenso nach wie einige verklemmte Erotikeinlagen. Das Buch war insgesamt jedenfalls so gut, dass ein weiteres Buch des Autors, das seit den 1990ern (Realzeit) in meinem Bücherregal steht, den Weg auf den Nachttisch geschafft hat. Lesen sie die Rezension dieses Buches dann im Jahresrückblick 2014.


Robert Harris: Ghost

Die Vorlage zum inzwischen schon vorletzten Polanski-Film.

Harris’ Buch ist, wie erwartet, intelligente Unterhaltung. Ein Politthriller um einen britischen Premier, der schon sehr deutlich an Tony Blair angelehnt ist, dessen Ghostwriter unter mysteriösen Umständen stirbt und von einem apolitischen Society-Ghostwriter ersetzt wird. Während die Thriller-Handlung den üblichen Verschwörungstheorie-Mustern ähnlich gelagerter Politkrimis folgt und recht konventionell bleibt, hat das Buch auf anderen Ebenen echte Qualitäten.

Das beginnt mit dem Ich-Erzähler, der zum einen interessante Einblicke in das Gewerbe des Ghostwriters bietet, zum anderen als Figur (naiv, ohne Interesse an Politik) sowohl für die Handlung als auch für die Erzählperspektive hervorragend funktioniert. Dazu kommen immer wieder schöne Anspielungen auf einen Zeitgeist, in dem mediale Vermarktung alles ist und die globale Verwicklungen sich auf nationale Politik auswirken. Harris’ große Kunst ist es nun, aus seinem Roman keine Satire oder Anklageschrift zu machen, sondern Kommentare en passant einfließen zu lassen. Dieser Autor nimmt seine Leser ernst und muss daher nicht mit dem Zaunpfahl winken. Abgerundet wird der positive Eindruck durch die sehr atmosphärische Schilderung von Martha’s Vineyard / New England im Winter, die dem Buch eine angemessen düstere und gefahrvolle Stimmung verleiht. „Wo es an Genius fehlt, bleibt einem immer das Handwerk“ lässt Harris an einer Stelle seine Hauptfigur formulieren. Ein Meister seines Handwerks ist Harris auf jeden Fall. Sein Buch ist intelligente Unterhaltung im besten Sinne.


Mohsin Hamid: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Mein Hörbuch des Jahres.

Eigentlich der Monolog eines Pakistanis, der in Lahore einen Amerikaner trifft und ihm seine Lebensgeschichte erzählt, in der Amerika eine große Rolle spielt. Der Leser bzw. Hörer wird in die Rolle des Amerikaners versetzt, der dem Pakistani interessiert zuhört, ihm aber gleichzeitig misstraut. Diese Struktur funktioniert gut und hält die Spannung aufrecht, da der Hörer stets wissen will, wie der einst erfolgreiche und assimilierte Yuppie-Student wieder in seinem Heimatland gelandet ist.

Mir wäre es lieber gewesen, wenn der 11. September nicht so eine tragende Rolle für die Veränderung gespielt hätte, wobei man dem Buch zugestehen muss, dass die Veränderung über den Katalysator der Frauenrolle Erika stattfindet und damit unaufdringlicher wirkt als in anderen Büchern, die dasselbe Thema behandeln. Überhaupt ist die Vermischung von Privatem mit Politischem recht überzeugend, denn Erikas Veränderung, das Aufbrechen ihres Traumas ob des Verlustes ihrer großen Liebe, bricht nur scheinbar zufällig parallel zum Anschlag auf das WTC auf. Wer will, kann das Geschehen symbolisch deuten, wer nicht, kann es auch lassen und tut dem Buch damit keine Gewalt an. Gleiches gilt für die Wandlung des weltoffenen Kosmopoliten zum ungewollten Fundamentalisten. Diese ist nicht ohne Ironie (Stichwort „First we take Manhatten, then we take Berlin“) und machte mir das Buch sympathisch. Ebenso wie das offene Ende, das die Ironie des erwähnten Wandels und das Unbehagen des gesamten Romans noch einmal aufgreift, um den Hörer mit diesen Gefühlen zu entlassen. Kein Meisterwerk, aber unterhaltsam, spannend und durchaus relevant.


Die größte Enttäuschung des Jahres soll auch nicht unerwähnt bleiben.

Dirk Stermann: 6 Österreicher unter den ersten 5

Was hatte ich mich auf dieses Buch gefreut. Und es begann auch furios mit zahlreichen Stellen, an denen ich laut lachen musste. Wie der Ruhrpott-Deutsche Stermann in den grauen 1980ern ins durch den Kalten Krieg zum Zonenrandgebiet gewordenen Wien ankommt, auf Piefke-Feindseligkeiten trifft und sich als naiver Neuling zu integrieren versucht, hat Charme und Witz. Leider tritt das Buch aber bald auf der Stelle. Es gibt zahlreiche Wiederholungen (Cordoba; die immer gleichen Anfeindungen), Figuren kommen und gehen, das Buch plaudert vor sich hin. Man hat es hier mit episodischer Popliteratur zu tun und keinesfalls, wie einen der Autor glauben machen will, mit einem Roman. Dafür erfährt man viel zu wenig über den Ich-Erzähler, gleichsam als hätte der Autor Stermann Angst, zuviel von sich preiszugeben. Fair enough, aber warum dann in Ich-Form schreiben? Und überhaupt: Autor=Ich-Erzähler? Das glauben doch nur noch die ganz Schlichten. Schätzt Stermann seine Leser so ein? Schade. Alles in allem gerade noch amüsant und kurzweilig, aber hinter den Erwartungen.

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