Freitag, 19. Januar 2018

Fantasy Filmfest Highlights 2017

Inzwischen wird man von den Machern des Fantasy Filmfests ja eigentlich das ganze Jahr über gut betreut. Zwei Wochenenden im Januar bzw. April verkürzen die Wartezeit auf das große Festival im Sommer, das inzwischen 11 Tage dauert. Da sind selbst in eher schwachen Jahren immer einige Entdeckungen dabei, von denen die meisten nicht den Weg ins Kino finden. Um diese schönen Filme soll es hier gehen.

Bereits im Winter bzw. Frühling liefen bei den White Nights bzw. Nights jeweils zwei Filme, die es sich lohnt hervorzuheben.

The Invisible Guest
Oriol Paulo, Regisseur des nicht minder zum Miträtseln einladenden Films "The Body", hat hier einen temporeichen Krimi inszeniert, den selbst Tatort-Hasser wie ich lieben können. Exzellentes Timing, zahlreiche Drehungen und Wendungen, die aber nie zu weit hergeholt sind. Ich habe auch beim zweiten Gucken keine Logiklöcher entdecken können und damit gleich hatte zweimal großen Spaß an diesem spannenden und intelligenten Film.



The Transfiguration
Weniger zugänglich, aber sehr faszinierend fand ich diesen Vampirfilm im Stile eines britischen Sozialdramas. Oder war es ein Sozialdrama im Stil eines Vampirfilms? Egal, „Vampir“ ist hier einmal mehr die passende Metapher für einen Außenseiter, und der Film ist so britisch, dass der geneigte Englischlehrer jubelt.



Sweet Sweet Lonely Girl
Sehr stimmungsvoller Low-Budget-Gruselfilm mit dezenten Dario-Argento-Anleihen. Weit weniger aufdringlich als Filme wie "Amer" - und damit auf die Dauer auch weit weniger nervig: Denn der Film will nicht nur ein Stilfeuerwerk sein, sondern erzählt auch gekonnt eine Geschichte von Einsamkeit und der Sehnsucht nach Freundschaft und Liebe. Jump-Scare-Freunde waren enttäuscht, Arthouse-Fans (wie ich) nicht.



Going to Brazil
A propos Arthouse. Von nichts ist diese letzte Empfehlung weiter entfernt. "Going to Brazil" ist eine französische, weibliche „Hangover“-Variante mit ein wenig Pulp-Fiction-Gewalt und vier extrem gutaussehenden Damen. Popcorn-Kino wie es sein soll.




Das sommerliche Filmfest fand für mich dann zwar mit Dauerkarte, aber unter erschwerten Bedingen statt: laufender Schulbetrieb, davon drei volle Tage Prüflesen für‘s Landesabitur in Wiesbaden, und an einem der Wochenenden auch noch das Golden Leaves Festival in Darmstadt, das zu besuchen inzwischen praktisch Familientradition geworden ist.
Insofern war der Blick ins Programmheft nun, einige Monate danach, interessant, denn so schwach wie ich ihn in Erinnerung hatte war der 2017er-Jahrgang gar nicht. Vielmehr war die Ablenkung so vielfältig, dass offensichtlich einfach meine Erinnerung schwach war. Daher hier, mit aufgefrischter Erinnerung, noch die Highlights.

Raw
Eigentlich mein Lieblingsfilm dieses Jahrgangs. Eine radikale Coming-of-Age-Geschichte, die Kannibalismus als Metapher nutzt und nicht davor zurückschreckt, ihn zu zeigen, wenn es der Geschichte und ihrer Atmosphäre dient. Über die individuelle Ebene hinaus bietet der Film auch einige Seitenhiebe auf Leistungsorientierung und Normierung im Bildungssystem. Eine ziemlich rohe Welt, die Raw da zeigt (*Tusch* für‘s Wortspiel), und leider eine ziemlich reale.



A Sicilian Ghost Story
Pure Poesie bietet diese italienische Geister-, Mafia- und erneut Coming-of-Age-Geschichte. Sehr stimmungsvoll, sehr metaphysisch und doch nie in die Kitschfalle tapsend. Eine große Geschichte für die große Leinwand und einer dieser Genrehybride für die ich das Filmfest nach wie vor liebe.




Land of the Little People
Die Referenz "Lord of the Flies" wurde in Programmheft und Gesprächen im Kino oft bemüht und sie ist unübersehbar. Nur dass die Jugendlichen in diesem israelischen Film nicht auf einer Insel auf sich selbst gestellt sind, sondern in einem zivilisierten, aber von fortwährenden kriegerischen Auseinandersetzungen ausgezehrten Land des 21. Jahrhunderts. "Land of the Little People" zeigt unaufdringlich inszeniert, aber eindringlich in seiner Wirkung die psychologischen Folgen dieses Zustandes. Sehr spannend, beeindruckend und bei mir lange nachwirkend.




Fashionista
Noch so ein Genre-Hybrid. Das als Psychothriller getarnte Charakterdrama einer mit sich selbst unzufriedenen Frau, der es an Liebe, Anerkennung und Selbstachtung fehlt und die das durch einen Kleidungsfetisch kompensiert. Clever erzählt (mit zahlreichen Vorblenden – statt Rückblenden, die dem Zuschauer an passender Stelle stets ein paar Informationsbröckchen zuwerfen, um ihn über den weiteren Verlauf der Story spekulieren zu lassen) und schauspielerisch in der weiblichen Hauptrolle herausragend. Ein unerwartetes Highlight.



My Friend Dahmer
Ich mag eigentlich keine Filme über reale Serienkiller. Denn oft werden hier Deppen bzw. Verbrecher glorifiziert und mystifiziert. Meine Vorbehalte gegen "My Friend Dahmer" waren jedoch unbegründet, denn der Film zeichnet lediglich das Abschlussjahr Jeffrey Dahmers an seiner Highschool nach und ist damit eher eine Highschool-Geschichte mit den üblichen Typen, und zwar eher im Stil von "American Graffiti" als von "American Pie". Insofern geht es viel um Rollengefüge und das Streben nach Akzeptanz und Anerkennung in einem Mikrokosmos, der nur wenig Abweichungen zulässt. Und da wir ja auf dem Fantasy Filmfest und nicht beim „Kleinen Fernsehspiel“ sind wird das alles sehr unterhaltsam, mitunter spannend und vor allem mit viel Liebe zum 70er-Jahre-Detail inszeniert.



Hounds of Love
Am letzten Tag am Nachmittag versteckte sich dieser Schlag in die Magengrube. Menschliche Abgründe, wie sie auf dem FFF alle Jahre wieder serviert werden. Am ehesten musste ich an den unvergesslichen "An American Crime" aus dem Jahr 2007 denken, der selbst hartgesottene Dauerkartenbesitzer zum Weinen brachte. Wobei dieser Film in Australien spielt und zeigt, dass die Abgründe universell sind.



Killing Ground
Für mich der beste Thriller des Festivals. Ein Pärchen will sich ein schönes Wochenende machen und zeltet in der freien Natur. Kann ja nur schiefgehen. Kennt man, wird hier aber extrem spannend einmal mehr durchgespielt.



Marlina the Murderer in four Acts
Das hingegen kannte ich noch nicht: ein feminsitischer, philippinischer Rachefilm in Stile eines Italowesterns. Langsam erzählt, weshalb man die exquisiten Bildern so richtig in sich aufsaugen kann, mit lakonischem Humor und toller Musik. Konsequent bis zum Ende, überzeugender als jede Me-too-Kampagne und damit im Jahr 2017 brandaktuell. Läuft seit gestern übrigens im Kino.




Mittwoch, 17. Januar 2018

Das Filmjahr 2017

Lieblingsfilme:

Dunkirk
Ich gebe zu, ich hatte den Film nicht auf dem Zettel. Warum weiß ich gar nicht, denn Christopher Nolan hat mich bisher eigentlich noch nie enttäuscht. Vermutlich weil ich keine Lust auf Kriegsfilm und WW II hatte. Ich Narr. Denn "Dunkirk" funktioniert als durchaus auch als Anti-Kriegsfilm, weil er die Strapazen, Verzweiflung und Sinnlosigkeit von Kriegen en passant schildert. Zugleich ist er ein unglaublich spannender Film zum Thema Überleben. Das Tempo ist atemberaubend und Nolan gönnt dem Zuschauer nur wenig Ruhepausen, der Score von Hans Zimmer tut sein Übriges um zu verhindern, dass man im Kinosessel entspannt. Unglaublich intensiv, packend und zugleich klar in der Aussage. Ein echtes Meisterwerk.



Jackie
Vor ein paar Jahren bin ich über den Film "No!" des chilenischen Regisseurs Pablo Larrain gestolpert. Im Jahr 2017 hatte der Mann gleich zwei Filme in den deutschen Kino. Einer war "Jackie", in dem es um die Tage nach der Ermordung John F. Kennedys aus der Sicht seiner Witwe Jackie geht. Wer hier ein Melodram à la Hollywood erwartet hat, wurde vermutlich bitter enttäuscht. Larrain stellt vielmehr den Antagonismus von Privatem und Öffentlichen am Beispiel Jackie Kennedys heraus und feiert sie in ihrem souveränen Umgang mit der Situation. Die Mischung aus politischen Film mit universeller Aussage und persönlicher Geschichte mit emotionalen Momenten (an dieser Stelle muss Natalie Portmans feine Darstellung in höchsten Tönen gelobt werden) hat den Film für mich zu einem extrem spannenden gemacht. Und einmal mehr ist Larrain ein Meister der Bildgestaltung. War es in „No!“ die verwackelt unscharfe VHS-Ästhetik sind es hier die vielen Close Ups Natalie Portmans, die dem Zuschauer fast schon eine Komplizenschaft mit Jackie Kennedy aufzwingen. Ein intellektuell wie visuell stimulierender Film. Kino für Fortgeschrittene.




Wilde Maus
Ich bin ein Fan von Josef Hader, ich gebe es zu. Und ich habe mich sehr gefreut, ihn einmal nicht als Ex-Polizist Brenner im Kino zu sehen. Zwar ist auch die Hauptfigur in "Wilde Maus" ein Verlierer, aber einer, der es einem schwer macht, ihn sympathisch zu finden. Der heilige Zorn des entlassenen Kulturkritikers, den Hader darstellt, ist zu Beginn noch nachvollziehbar, doch im Laufe des Films kann einem das Selbstmitleid des Anti-Helden schon auf den Nerv gehen, zumal sein Rachefeldzug ziemlich stümperhaft ausgeführt wird. Insofern ist "Wilde Maus" etwas sperriger als die Brenner-Verfilmungen, aber wer Hader kennt, weiß, dass er sein Publikum gerne fordert. Ich habe die Herausforderung gerne angenommen und mein diebisches Vergnügen an dem Film gehabt.



Personal Shopper
Alle Jahre wieder gibt es einen Film, der mich in der richtigen Stimmung erwischt. Kristen Stewart spielt eine Amerikanerin in Paris, die für eine Diva die titelgebende persönliche Shopperin ist, ihren Job nicht mag und außerdem versucht, mit ihrem verstorbenen Bruder spirituellen Kontakt herzustellen. Klingt furchtbar? Mag sein. Aber Olivier Assayas weiß, was er tut, und ich fand den Film, ähnlich wie "The Neon Demon" im vergangenen Jahr einen gelungenen Beitrag zum Thema Sinnsuche in einer Welt der Oberflächlichkeiten. Definitiv keine Empfehlung für den entspannten Videoabend, sondern Arthouse-Kino im besten Sinne, das einen offenen Zuschauer fordert und zugleich belohnt.



Neruda
Larrains zweiter Film im Jahr 2017 schildert das Katz- und Maus-Spiel zwischen dem Dichter Pablo Neruda und einen ihn verfolgenden, verkniffenen chilenischen Staatsbeamten. Einmal mehr nicht sehr linear, einmal mehr wählt Larrain den schweren Weg und baut allerlei surreale und retardierende Momente in die an sich geradlinige Handlung ein. Denn es geht ihm hier um zwei archetypische Antagonisten, den Apparatschik und den Revolutionär, den Biedermann und den Bohemien. Die beiden können nicht miteinander, aber letztlich auch nicht ohneeinander, weil sie füreinander sinnstiftend sind. Und auch hier treffen Politisches und Privates wieder aufeinander, und zwar in einem bildgewaltigen und visuell ausgeklügelten Film.




Hunt for the Wilder People
Ach, all dieser verkopfte Arthouse-Mist. Kann der König nicht mal was Unterhaltsames empfehlen? Klar! "Wo die wilden Menschen wohnen" oder, wie er auf den White Nights des Fantasy Filmfests hieß und im Original heißt „Hunt for the Wilderpeople“. Die Story: ein übergewichtiger Waisenknabe mit Gangsterallüren wird vom Jugendamt an eine gutherzige Frau und ihren knorrigen Gatten in der neuseeländischen Wildnis in Pflege gegeben. Die Frau stirbt und das ungleiche Gespann aus Alm-Öhi und dauerlaberndem Teenie muss fürderhin alleine klarkommen. Regisseur Taika Waititti, der in dem Film auch einen genialen Auftritt als Priester hat, bescherte und bereits „What We Do in the Shadows“ („5 Zimmer, Küche, Sarg“), und sein trockener, skurriler Humor durchzieht auch dieses Film, der aber gleichzeitig an jeder Stelle ein Herz für Freaks hat und gerade in seinem zweiten Teil, wenn die titelgebende Jagd eigentlich erst beginnt, wohlige 80er-Jahre-Reminiszenzen hervorruft. Ein Film, den man einfach lieb haben muss.


Und der Trailer hinterher, denn der allein ist schon ein Riesenspaß:


Hitlers Hollywood
Rüdiger Suchsland Film zum Kino der Nationalsozialisten ist weniger Dokumentation und mehr Essay. Er sucht nach den typischen Elementen der NS-Filme und versucht so den Kern des Nazikinos zu finden. Die gewählten Filmausschnitte sind faszinierend, die Fülle an Material überbordend – und Suchslands Kommentar fast immer auf den Punkt (und nicht ohne Humor, wenn er Marika Rökk als „Brummkreisel mit Gummigelenken“ beschreibt). Kein Doku-Kino für Lesefaule, sondern anregende Gedanken und grandios ausgewählte Filmbeispiele.



Das fünfte Element
Der einzige Film, den ich in diesem Jahr im Kino gesehen habe und den ich in meiner Liste mit voller Punktzahl bewertet habe, ist, wie ich gerade feststelle, „Das fünfte Element“, der zu seinem 20jährigen Jubiläum eine kurze Wiederbelebung auf der großen Leinwand erfuhr. Ist zwar 100% 90er ist, hat mich aber dennoch über seine gesamte Laufzeit blenden unterhalten. Oder vielleicht ja gerade deshalb.



Weitere gute Filme:

Room
Wollte ich ewig nicht sehen, möchte ich bitte nicht noch mal sehen. Ist aber wirklich ein unglaublich intensiver und berührender Film über Elternliebe in einer Situation, die nicht extremer sein könnte. Für Mutige.




T2 – Trainspotting 2
Konnte nicht so gut werden wie das Original, aber das war wohl allen Beteiligten klar. Und mir auch. Und so genoss ich dieses guilty pleasure, erfreute mich am Wiedersehen mit allen fünf Überlebenden und nahm erfreut zur Kenntis, dass die Geschichte ganz gut funktioniert. Well done, Danny Boyle.




Die Taschendiebin
High-End Kostümschinken von meinem Lieblingskoreaner Chan-wook Park. Erstaunlich freizügig, bisweilen etwas schwülstig, ansonsten aber vor allem gepflegte Unterhaltung mit feinster Optik, guter Story und furchtlosen Darstellerinnen.



Der Stern von Indien
Geschichtskino für Lesefaule wie mich, das ein unrühmliches Kapitel aus der Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert beleuchtet. Wo "Ghandi" in einem Happy End mündet, setzt dieser Film an und zeigt die Schwierigkeiten und politische Verwerfungen im Zuge der Entkolonialisierung und damit einhergehenden Teilung Indiens. Nicht ganz frei von simplifizierender Personalisierung, und damit besonders gegen Ende zunehmender Melodramatik, ist der Film über weite Strecken vor allem ein spannender Politkrimi, der im Kino zu Unrecht ziemlich unbeachtet geblieben ist.



It
Der Hit vom diesjährigen Fantasy Filmfest. Da war sogar der große Saal Nummer 6 im Frankfurter Platzhirschkino mal wieder ausverkauft. Nicht zu unrecht, denn die Neuverfilmung von Stephen Kings Megaschinken aus den Achtzigern ist sehr gelungenes Horrorkino (und machen wir uns nichts vor: bei allen „Stand By Me“-Referenzen steht der Horror hier immer klar im Vordergrund). Und zwar durchaus moderndes Horrorkino mit Jump Scares und einigen Härten. Vielleicht will der Film am Ende etwas zu viel, aber andererseits gelingt es ihm, das Buch so einzudampfen, dass dessen Geist erhalten bleibt, der Film aber dennoch seinen eigenen Weg geht.




The Limehouse Golem
Und noch ein Film vom Fantasy Filmfest mit einem kleinen Kinostart. Bill Nighy in einer erfreulich großen Rolle in diesem mit Liebe zum Detail gemachten Murder Mystery aus dem England des 19. Jahrhundert. So mancher Gewaltexzess stört etwas in diesem historischen Ambiente, aber insgesamt ein erfrischend altmodischer Unterhaltungsfilm mit einigen Schauwerten und toller Musik, für den man gerne ins Kino geht.




Three Billboards Outside Ebbing, Missouri
Hier hatte ich bereits Anfang Dezember das Glück einer Preview. Frances McDormand, Sam Rockwell und Woody Harrelson in einem Film, der allen dreien hervorragende Rollen gibt. Großes Schauspielerkino mit viel schrägem Humor, das sich am Ende zwar etwas in seiner Story verheddert, über weite Strecken aber wirklich sehr viel Spaß macht.




Blade Runner 2049
Denis Villeneuve geht die Blade-Runner-Fortsetzung ziemlich elegisch an. Wenn man sich an das nicht gerade hohe Tempo im ausführlichen Mittelteil gewöhnt hat, kann man sich aber dem optischen und akustischen Genuss, der diesem Regisseur einmal mehr gelingt, voll hingeben. Okay, die Botschaft ist die alte und die Frage, was das Menschsein eigentlich ausmacht, fand ich in "Arrival" interessanter bearbeitet, aber manchmal kann man sich ja auch nur der Ästhetik hingeben.





Enttäuschungen und überschätzte Filme:

Mother
Darren Aronofskys neuester Film beginnt interessant als Kammerspiel, das an "Who‘s Afraid of Virginia Woolf?" erinnert, läuft dann aber im letzten Drittel dermaßen aus dem Ruder, dass es nur noch unfreiwillig komisch wirkt. Eine ganz eitle Nummer ohne Substanz und mit viel Getöse. Da habe ich mich echt geärgert.

The Killing of a Sacred Deer
Okay, der Regisseur ist Grieche und die rituelle Tötung des heiligen Hirsches stammt aus einer griechischen Tragödie. Aber dass es Regisseur Yorgos Lanthimos darum ging, eine moderne Tragödie um einen Mann zu schaffen, der Schuld auf sich geladen hat und dafür büßen muss, kann ich irgendwie nicht glauben. Dafür agieren alle Beteiligten – außer Nicole Kidman an einzelnen Stellen – zu artifiziell, dafür gibt es zu viele skurril komische Momente (okay, ich habe als einziger gelacht als der Sohn aus dem Krankenhausbett fällt, weil er zum Fenster gehen möchte, aber an sich ja seine Beine nicht bewegen kann. Das war komisch, auch wenn ihr euch alle nicht getraut habt zu lachen, ihr Karlsruher Arthouse-Kinogänger, die ihr vom deutschen Feuilleton eingeschüchtert wart). Nein, sorry, wenn das ernst gemeint war, ist es eine Luftnummer. Optisch super, das stimmt, aber inhaltlich hätte ich mir - gerade nach "the Lobster" - mehr erwartet.

Get Out
Voll auf der Höhe der Zeit mit seiner Rassismus-Thematik, noch dazu weil er sich so elegant und amüsant verpackt, dieser nette, kleine Film mit ironischem Augenzwinkern. Aber ganz ehrlich: am Ende will "Get Out" ein Horrorfilm sein. Das ist er, solide und unterhaltsam ist er auch. Aber weder ist er ein großes Meisterwerk noch so intelligent wie allerorts zu lesen war.

Planet der Affen – Survival
Überwältigungskino mit dem üblichen Problem einer zu langen Laufzeit, zahlreichen Redundanzen und einer etwas sehr geradlinigen Handlung. Trotzdem war die Kritik voll des Lobes, nicht nur über die tolle Technik, sondern auch über die tolle Botschaft. „Der Mensch ist das schlimmste Raubtier von allen“. Ah ja. Kalenderblatt lässt grüßen.

Atomic Blonde
Spielt im Berlin der 80er. Cool. Bzw. hätte cool werden können, wenn man sich ansatzweise ein bisschen Mühe gegeben hätte und nicht die ganze Energie auf ermüdende Kampfsequenzen der Superlative gerichtet hätte. Ja ja, die ungeschnittene Kampfszene im Treppenhaus. Beeindruckend. Aber Jahre nach Brian de Palma und "The Raid" eben auch nicht mehr wirklich neu. Und wenn der Rest des Films darum sowohl belanglos als auch schlampig bis lieblos ist, bleibt am Ende nicht mehr viel übrig. Ich verweise nur mal auf den Soundtrack, der wirkt, als habe jemand in der Mittagspause mal kurz den „Best of 80s“-Sampler vom Wühltisch zufallsmäßig durchgeskippt und fertig war die Laube. Ein Film als Produkt, insgesamt ziemlich unsympathisch.

Girl on the Train
Vermutlich hätte ich das Buch nicht vorher lesen sollen. Denn von Paula Hawkins' abgründigem Roman mit einer unzuverlässigen Erzählerin, der der Leser irgendwann auch nur noch schwer vertrauen kann, ist in dieser straighten Krimiverfilmung nicht mehr viel übrig. Konventionell und entbehrlich.

Der junge Karl Marx
Don‘t get me started. Da kann auch August Diehl nichts mehr retten. Der arme Marx als Kostümschinken für lesefaule Schüler und tüttelige Rentnerinnen. Gut gemeint, aber so typisch deutsch gemacht, dass man nur die Hände vor's Gesicht schlagen kann, wenn man nicht schon auf der Hälfte dieses überlangen Lehrstücks eingeschlafen ist. Öde, langweilig, überflüssig.


DVD-Entdeckungen:

Midnight Special
Wie "E.T." ohne diesen hässlichen, kleinen Außerirdischen. Oder wie dieses Jugendbuch "Die Kinder vom anderen Stern" aus den Siebzigern, falls das noch einer kennt. Hat mich damals schwer beeindruckt. Immer noch nicht überzeugt? Na gut: Michael Shannon in einem Jeff-Nichols-Film. Muss ich noch mehr sagen?


A Hijacking
Tobias Lindholm - ein Name, den man sich merken sollte. Extrem spannend und sehr realistisch erzählt der Film des besagten Herrn, wie ein dänischer Frachter von somalischen Piraten gekapert und um das Lösegeld gepokert wird. Dabei werden alle Perspektiven beleuchtet, die Beweggründe aller Beteiligten nachvollziehbar – und somit die ganze Tragweite von etwas deutlich, das man aus den Nachrichten seit Jahren kennt, ohne sich vermutlich jemals darüber Gedanken gemacht zu haben, was es für die Betroffenen bedeutet.


A Serious Man
Da meine Liebe für die Coen-Brüder über die Jahre mehr und mehr abgekühlt ist, ist mir dieses Juwel im Kino durch die Lappen gegangen. Dabei ist "A Serious Man" Coen-Brüder in Reinform. Düsterer, lakonischer Humor, schräge und oft wenig sympathische Typen in der Provinz und eine Hauptfigur, für die alles schiefgeht. Jerry Lundegaard lässt grüßen. Wobei hier an sich die biblische Hiob-Geschichte erzählt wird, aus Religionslehrersicht durchaus ernstzunehmend, aber zugleich als Fest für den Coen-Brüder-Freund. Ich hatte wirklich sehr viel Spaß.


Höhere Gewalt
Ein Familienvater ruiniert seine Ehe, als er im Moment einer scheinbaren Lawinenkatastrophe nicht zuerst an seine Familie denkt, sondern an sich selbst. Interessante Prämisse, die in der Geschichte zum Glück zunehmend skurril durchgespielt wird, so dass bis zum Ende keine Langeweile aufkommt.


Side Effects
Steven Soderbergh kann's noch. Es beginnt wie eine Satire auf den Medikamentenwahn unserer Zeit, in der es für jeden stressbedingten Tick ein Mittelchen gibt, und wendet sich dann zu einem Mystery-Thriller im Hitchcock-Stil. Spannende, gehobene Unterhaltung für Erwachsene mit exzellenten Darstellern.



Wiedersehen machte Freude:

El Cuerpo - The Body




Mörderland – La Isla Minima





Fanden alle super, habe ich endlich nachgeholt und war sehr begeistert:

Searching for Sugarman




Prisoners




Spotlight




Rush




Audition


Und dann gab es ja auch noch das Fantasy Filmfest, doch dazu beim nächsten Mal mehr.

Montag, 15. Januar 2018

Lieblinge 2017 - Track by Track

Wie autobiographisch sind eigentlich diese Jahrescharts? Nun, einerseits natürlich sehr, denn jedes der Lieder, das ich auf CD gebannt habe (Pst, Kids, CDs, das sind die silbernen Scheiben, die eure Eltern in so komische, große Geräte legen, um Musik zu hören), hat im Jahr 2017 eine Rolle für mich gespielt, aber andererseits eben oft nicht so vordergründig, wie der Song vielleicht nahelegt. “Angst Angst Overkill” bedeutet nicht, dass ich demnächst mit einer Apokalypse rechne, oder Benjamin Biolays “Roma”, dass ich plötzlich geschmacklich einen an der Waffel habe. Es gibt für alles Gründe, und im Folgenden werden sie erklärt.

01 Maurice & die Familie Summen feat. Kryptik Joe: Zeit zurück
Und gleich mal eine Nummer direkt aus meinem Leben: das ist die Welt des Mittvierzigers, der zurück in die gute alte Zeit seiner Jugend will, die neutral betrachtet aber vielleicht doch gar nicht so gut war; der leicht melancholische Blick auf die eigene Vergänglichkeit, aber nicht als betroffener Indie-Folksong, sondern als superfunkige Hüftschwing- und Arschwackelnummer von Die-Türen-Sänger Maurice Summen zusammen mit größerer Band und dem einem Herren, dem man von Deichkind kennt. Ein großer Spaß.

02 Future Islands: Ran
Der große Hype scheint vorbei zu sein, denn Future Islands erhielten 2017 vielerorts nur noch lauwarme Reviews für ihr neues Album. Hauptvorwurf: klingt wie das letzte. Ah ja. Stört mich nicht. Gerade in „Ran“ kommt die Könnerschaft dieser Band einmal mehr auf das Schönste zum Vorschein: der sehnsuchtsvolle, flächige Elektrosound und darüber der stets über den Punkt melodramatische und exaltierte Gesang Sam Herrings. Trifft bei mir auch in der Wiederholung wieder mitten ins Herz.

03 J. Bernardt: Wicked Streets
Zweites Jahr der Balthazar-Pause, erster Solo-Output von Sänger Nummer zwei. Nicht nur live war J. Bernardt mit dieser Nummer auf dem Maifeld-Derby ein absoluter Höhepunkt, auch das Video und der reine Song haben mich das ganze Jahr über begleitet. Auch hier wieder eine Nummer zum Hüfteschwingen, betont lässig gesungen und mit schwebenden Synthie-Violinen, die wiederholt von einem Bläserbums unterbrochen werden, der für mich den eigentlichen Suchtfaktor des Stückes darstellt. So großartig, dass es der an sich auch sehr gute Song „Mad World“ des anderen Balthazar-Sängers nicht auf diese Zusammenstallung schaffte (Das wäre mit Spotify nicht passiert, und genau deshalb bleibe ich bei der CD, Kids!).

04 Andreas Dorau: Ossi mit Schwan
Man muss ihn einfach ehren und preisen, wo man kann, den Herrn Dorau. Einmal mehr bleibt der Mann sich treu und singt kein Liebeslied, sondern vertont eine Meldung aus dem „Aus aller Welt“-Teil eurer örtlichen Tageszeitung. Gewalt gegen Ossis und Schwäne, musikalisch lieblich und poppig verpackt. Musik mit dem Humor, der der schwerstseriösen aktuellen deutschsprachigen Popmusik ansonsten leider größtenteils fehlt. Ich musste beim Hören gerade schon wieder lachen. Und für die Verwendung des vom Aussterben bedrohten Wortes „Grobian“ danke ich Andreas Dorau auch.

05 Kreidler: Boots
Okay, ich gebe zu, ich habe so meine Schwierigkeiten damit, ein Instrumentalalbum mit elektronischer Musik als Ausdruck von Protest zu begreifen. Kreidler sehen ihr 2017-Album „European Song“ allerdings so, und wer bin ich, den Künstlern zu widersprechen? Dann eben Protest. Ich habe mich allerdings vor allem darüber gefreut, dass es ein neues Album gab, dass es zudem das beste Cover aller Kreidler-Alben hat und dass mit „Boots“ eine kickende, hübsch aggressive Nummer dabei ist, die sich in die Reihe meiner anderen Lieblingstracks der Band von „Kremlin Rules“ bis „Alphabet“ nahtlos einreiht.



06 Romano: Raupe
Der blond bezopfte Rapper aus Köpenick schaffte es in diesem Jahr nicht nur, mich zum zweiten Mal live komplett für sich einzunehmen, mit „Raupe“ hat er auch einen Song auf seinem neuen Album, der sich von den anderen eher auf Party abzielenden Nummern abhebt. Textlich zwischen Jacques Palminger und dem Fantasy Filmfest angesiedelt, wabert der Song auch musikalisch recht unangenehm daher und wird gerade dadurch interessant.



07 Tristesse Contemporaine: Dem Roc
Nachdem der Plattenhändler meines Vertrauens das neue Album meiner Dauerlieblinge Tristesse Contemporaine monatelang nicht liefern konnte, habe ich es erst mit erheblicher Verzögerung im Laufe des Jahres wahrgenommen. Insofern würdige ich es auch auf der Lieblinge-CD, auch wenn ein Song bereits die 2016er-Version zierte. „Dem Roc“ unterschreitet lässig die Drei-Minuten-Marke. Der Song hat es eilig. Drängend, leicht hektisch und monoton zugleich, vor allem tanzbar und den Adrenalinpegel erhöhend – wie geht so was? Keine Ahnung, aber dieses Trio schafft es einmal mehr seine unterschiedlichen musikalischen Hintergründe gekonnt im Dienst eines außergewöhnlichen Songs zu stellen. Und ich verweise auch noch mal den wunderbaren Text: „Dem roc, and we rock, they never gonna rock what we got, what we got is sweeter, yeah we turn the heat up“. Eben.

08 Benjamin Biolay: Roma
Midlife Crises? Zu lange in der Sonne gesessen? Egal. Benjamin Biolay folge ich in jeden Irrsinn. In den letzten beiden Jahren hat der Retter des französischen Chansons gleich zwei Alben (wie üblich mit viel zu vielen Lieder) veröffentlicht, auf denen er spanischer bzw. südamerikanischer Musik huldigt. Wobei er vor nichts zurückschreckt. Schwülstiger Kitsch, Zigeunerromantik, Rondo-Veneziano-Geigen und spanischsprachige Gastrapper. Im Video setzt er dem Ganzen noch eins drauf. Herrlich. Einer meiner beiden Lieblingsongs des diesjährigen Frankreichurlaubs, wo musikalisch alles erlaubt ist, solange es sommerliche Gefühle beschwört. P.S.: ganz Mutigen empfehle ich nach dem Genuss dieses Liedes mal „La noche ya no existe“. Da legt Biolay noch 'ne Schippe drauf.

09 White Wine: Killer Brilliance
Womit wir beim musikalischen Höhepunkt des Jahres wären. Die veritabel durchgeknallten (siehe Video) White Wine, die ich live seit Oktober 2016 mehrfach versäumt habe, deren Songoutput ich mir aber nach und nach erschlossen habe. Gitarre, Fagott und Glockenspiel in einem Indierock-Song, der intelligent komponiert, aber nicht zu verkopft daherkommt. Dazu ein Gesang mit hohem Wiedererkennungswert und eine Dramatik, die auch bei mehrfachem Hören keine Langeweile aufkommen lässt. Müsste ich wählen, das wäre mein Song des Jahres und White Wine meine Lieblingsband.

10 Peter von Poehl: Inertia
Ein Mann, den ich gar nicht auf dem Zettel hatte. Woher auch? Peter von Poehl ist ein Schwede, der vor ein paar Jahren wohl mal einen Minihit hatte und der jetzt in Frankreich lebt, wo er seine Musik aufnimmt und auch auftritt. Welch ein Glück, dass einer dieser Auftritte im Mai in Toulouse stattfand und ich im Rahmen eines Austausches mit zahlreichen entfesselten Siebtklässlern dort war. Nicht nur das Konzert war herausragend, auch auf dem aktuellen Album von Poehls finden sich einige exquisite Stücke, so wie dieser schöne und elegante Song, dem man allenfalls vorwerfen kann, dass er fast ein wenig zu perfekt klingt. Kitsch ist keine Kategorie hier.

11 Julien Doré: Coco Caline
Franzose Nummer zwei auf diesen Jahrescharts ist auch ein alter Bekannter. Julien Doré gelang mit Coco Caline und dem dazugehörigen Album in seinem Heimatland wohl endlich der verdiente Durchbruch. Konzerte in großen Hallen und ein omnipräsenter Song, den man auf dem Weg zum Strand von La Grande Motte aus so manchem Handy quäken hören konnte. Dass Doré seine Kernkompetenz Selbstironie für den Erfolg nicht aufgeben musste, freut mich doppelt. Das minimalistische Video zu Coco Caline erfreute die ganze Familie König im Urlaub mehrfach.

P.S.: ein wahres Kunstwerk an Kurzfilm ist „Sublime et Silence“, das der geneigte Betrachter sich unbedingt auch anschauen sollte:

12 Friends of Gas: Graue Luft
Ach Mist, jetzt habe ich mich mit der Lieblingsband ja schon auf White Wine festgelegt. Dabei sind doch eigentlich Friends of Gas meine Band des Jahres. Diese absolut furchtlosen, schönen, jungen Menschen versprühen so viel jugendliche Aggression, musikalisch wie textlich, dass ich mich frage, warum ich eigentlich so auf sie abfahre. Die Antwort findet sich vermutlich im ersten Song dieser dieser Zusammenstellung. Stichwort: "alte Zeit zurück, tick tack". Mich kickten die Friends of Gas im Jahr 2017 nicht nur live, sondern auch daheim, auf dem Weg zur Arbeit oder beim Verarbeiten der letzten Gesamtkonferenz. Egal ob Album oder dieser Track, den man meines Wissens bisher nur im Internet findet, einfach großartige Musik voller Energie und mit wunderbar verstörenden Texten („Und als ich rausging war ich voller Käfer, als ich rausging war es anders, ...anders“).

13 Ruby: Paraffin (Red Snapper Mix)
Kurz mal durchatmen. Inspiriert vom allerallerbesten Konzert des Jahres im Oktober in London habe ich mein CD-Archiv nach den obskureren Red-Snapper-Tracks durchforstet und bin dabei auf diese wunderbare Nummer aus dem Jahre 1995 gestoßen. Auf einer Remix-Platte der längst vergessenen Triphop-Combo Ruby findet sich dieses Meisterwerk, das dem Original Referenz erweist, gleichzeitig aber, vor allem mit dem Double Bass, deutliche Red-Snapper-Elemente aufweist. Ein perfekter Remix, ein sehr hörbarer Song, der zudem zeigt, welches Potential dieses kurzlebige Genre eigentlich hatte. Mein schönstes Wiederhör-Erlebnis des Jahres.

14 Messer: Der Staub zwischen den Planeten
Messer hatte ich über Facebook in diesem Jahr ja auch schon mal lautstark zur besten Band des Jahres gekürt. Zum Glück nur zur besten deutschsprachigen, denn sonst würde ich ja langsam unglaubwürdig werden mit diesen ständigen Superlativen. Doch Anfang des Jahres war ich schon ziemlich im Messer-Fieber, was vor allem auch damit zu tun hatte, dass nach dem exzellente Konzert Ende 2016 in Wiesbaden ein nicht minder exzellentes im April 2017 in der Darmstädter Oettinger Villa folgte. Ein Dreivierteljahr später ist es vor allem dieser Song, den ich nach wie vor ungebrochen liebe. 

15 Nicolas Sturm: Angst Angst Overkill
Nicolas Sturm hat mich in diesem Jahr mit einigen Songs beeindruckt. Das klare politische Statement in „Im Land der Frühaufsteher“ verdient Respekt, „Lichtjahre“ ist ein wunderbar melancholisches Lied über die Sehnsucht danach, etwas zu erleben – und beide Songs hätten hier ebenso vertreten sein können. Meine Entscheidung fiel aber auf das Titelstück, da sich dieses anfühlt, als wäre es aus meiner Jugend: „Das Neonlicht malt Risse in dein Gesicht; was du hast gefällt dir nicht, und was du willst, bekommst du nicht“. Ja, so hat sich das angefühlt in den späten 80ern in der badischen Provinzmetropole. Woher weiß Nicolas Sturm das? Und wie gelingt es ihm, diesen Geist nicht nur textlich, sondern auch musikalisch in seinem Song zu transportieren? Wer deutschsprachige Indiemusik schätzt und es musikalisch durchdacht mag, sollte sich das Album mit diesem Song mal anhören. Wächst mit jedem Hören, so dass Nicolas Sturm für mich eine er größten musikalischen Entdeckungen des Jahres ist.

16 Intergalactic Lovers: River
Ich würde es ihnen ja gönnen, wenn sie mit Album Nummer drei endlich den großen Durchbruch schaffen würden, die Intergalactic Lovers. Denn ich mag sowohl die Band als auch ihre Musik. Denn das ist zwar Popmusik, aber die Art von Pop, der nicht am Reißbrett entsteht, sondern Substanz hat, gereift ist und auch bei mehrfachem Hören nicht langweilig wird, sondern im Gegenteil wächst. Weil man noch eine Nuance entdeckt, weil der Gesang auch bei hundertsten Mal noch schön ist, weil die Mischung aus Leichtigkeit und Dramatik genau passt. Und wenn man ins ZDF-Morgenmagazin gehen muss, um einer größeren Anzahl von Leuten diese Qualitäten klar zu machen (weil die Musik für's Formatradio eben immer noch zu sperrig ist), dann bitte sehr. Wenn es dazu dient, dass in Wiesbaden 150 Leute zum Konzert kommen statt wie vor ein paar Jahren nur 10, kann ich das nicht schlecht finden.

17 Die Sonne: Alles muss wachsen
So, genug entspannt. Kehren wir zurück zu den eher unangenehmen Texten. Gegen Ende des Jahres kam ich in den Genuss des zweiten Albums von Die Sonne. Auch hier hätte ich wieder diverse Titel auswählen können. Denn diese Platte ist fantastisch. Für den geneigten Zuhörer zumindest. Oliver Mincks Texte sind abgründiger denn je, düstere Wahrheiten zu allen möglichen Themen. Die düsterste hier. Der Song für alle, die Christian Lindners FDP gewählt haben und den Klimawandel für eine Erfindung der Grünen halten. Für alle, die den Schwachsinn glauben, dass man alles erreichen kann, wenn man nur will. Für alle, die immer noch einem rücksichtslosen Individualismus anhängen und glauben, dass sie so glücklich werden können. Für euch gilt: "macht euch jetzt endlich mal Sorgen".
Für den Text hier eine Liverversion von 2014. Klingt drei Jahre später leicht umarrangiert musikalisch wesentlich besser.

18 Family 5: Stolpere nicht
Und wenn ich mich jetzt schon so weit geöffnet habe, kann ich auch noch den guten, alten Peter Hein nachschieben. Manifest und Mantra in einem. Für die Guten da draußen: wenn ihr zweifelt, hört dieses Lied. Ihr macht alles richtig. Bussi - und bis nächstes Jahr