Inzwischen wird man von den Machern des Fantasy Filmfests ja eigentlich das ganze Jahr über gut betreut. Zwei Wochenenden im Januar bzw. April verkürzen die Wartezeit auf das große Festival im Sommer, das inzwischen 11 Tage dauert. Da sind selbst in eher schwachen Jahren immer einige Entdeckungen dabei, von denen die meisten nicht den Weg ins Kino finden. Um diese schönen Filme soll es hier gehen.
Bereits im Winter bzw. Frühling liefen bei den White Nights bzw. Nights jeweils zwei Filme, die es sich lohnt hervorzuheben.
The Invisible Guest
Oriol Paulo, Regisseur des nicht minder zum Miträtseln einladenden Films "The Body", hat hier einen temporeichen Krimi inszeniert, den selbst Tatort-Hasser wie ich lieben können. Exzellentes Timing, zahlreiche Drehungen und Wendungen, die aber nie zu weit hergeholt sind. Ich habe auch beim zweiten Gucken keine Logiklöcher entdecken können und damit gleich hatte zweimal großen Spaß an diesem spannenden und intelligenten Film.
The Transfiguration
Weniger zugänglich, aber sehr faszinierend fand ich diesen Vampirfilm im Stile eines britischen Sozialdramas. Oder war es ein Sozialdrama im Stil eines Vampirfilms? Egal, „Vampir“ ist hier einmal mehr die passende Metapher für einen Außenseiter, und der Film ist so britisch, dass der geneigte Englischlehrer jubelt.
Sweet Sweet Lonely Girl
Sehr stimmungsvoller Low-Budget-Gruselfilm mit dezenten Dario-Argento-Anleihen. Weit weniger aufdringlich als Filme wie "Amer" - und damit auf die Dauer auch weit weniger nervig: Denn der Film will nicht nur ein Stilfeuerwerk sein, sondern erzählt auch gekonnt eine Geschichte von Einsamkeit und der Sehnsucht nach Freundschaft und Liebe. Jump-Scare-Freunde waren enttäuscht, Arthouse-Fans (wie ich) nicht.
Going to Brazil
A propos Arthouse. Von nichts ist diese letzte Empfehlung weiter entfernt. "Going to Brazil" ist eine französische, weibliche „Hangover“-Variante mit ein wenig Pulp-Fiction-Gewalt und vier extrem gutaussehenden Damen. Popcorn-Kino wie es sein soll.
Das sommerliche Filmfest fand für mich dann zwar mit Dauerkarte, aber
unter erschwerten Bedingen statt: laufender Schulbetrieb, davon drei volle Tage
Prüflesen für‘s Landesabitur in Wiesbaden, und an einem der
Wochenenden auch noch das Golden Leaves Festival in Darmstadt, das zu
besuchen inzwischen praktisch Familientradition geworden ist.
Insofern
war der Blick ins Programmheft nun, einige Monate danach, interessant, denn
so schwach wie ich ihn in
Erinnerung hatte war der 2017er-Jahrgang gar nicht. Vielmehr war die Ablenkung so vielfältig, dass offensichtlich einfach meine Erinnerung schwach war. Daher hier, mit aufgefrischter
Erinnerung, noch die Highlights.
Raw
Eigentlich
mein Lieblingsfilm dieses Jahrgangs. Eine radikale
Coming-of-Age-Geschichte, die Kannibalismus als Metapher nutzt und
nicht davor zurückschreckt, ihn zu zeigen, wenn es der Geschichte und
ihrer Atmosphäre dient. Über die individuelle Ebene hinaus bietet der
Film auch einige Seitenhiebe auf Leistungsorientierung und Normierung
im Bildungssystem. Eine ziemlich rohe Welt, die Raw da zeigt (*Tusch*
für‘s Wortspiel), und leider eine ziemlich reale.
A
Sicilian Ghost Story
Pure
Poesie bietet diese italienische Geister-, Mafia- und erneut
Coming-of-Age-Geschichte. Sehr stimmungsvoll, sehr metaphysisch und
doch nie in die Kitschfalle tapsend. Eine große Geschichte für die
große Leinwand und einer dieser Genrehybride für die ich das
Filmfest nach wie vor liebe.
Land
of the Little People
Die
Referenz "Lord of the Flies" wurde in Programmheft und Gesprächen
im Kino oft bemüht und sie ist unübersehbar. Nur dass die
Jugendlichen in diesem israelischen Film nicht auf einer Insel auf
sich selbst gestellt sind, sondern in einem zivilisierten, aber von
fortwährenden kriegerischen Auseinandersetzungen ausgezehrten Land
des 21. Jahrhunderts. "Land of the Little People" zeigt
unaufdringlich inszeniert, aber eindringlich in seiner Wirkung die
psychologischen Folgen dieses Zustandes. Sehr spannend, beeindruckend
und bei mir lange nachwirkend.
Fashionista
Noch
so ein Genre-Hybrid. Das als Psychothriller getarnte Charakterdrama
einer mit sich selbst unzufriedenen Frau, der es an Liebe,
Anerkennung und Selbstachtung fehlt und die das durch einen
Kleidungsfetisch kompensiert. Clever erzählt (mit zahlreichen
Vorblenden – statt Rückblenden, die dem Zuschauer an passender
Stelle stets ein paar Informationsbröckchen zuwerfen, um ihn über
den weiteren Verlauf der Story spekulieren zu lassen) und
schauspielerisch in der weiblichen Hauptrolle herausragend. Ein
unerwartetes Highlight.
My
Friend Dahmer
Ich
mag eigentlich keine Filme über reale Serienkiller. Denn oft werden
hier Deppen bzw. Verbrecher glorifiziert und mystifiziert. Meine
Vorbehalte gegen "My Friend Dahmer" waren jedoch unbegründet,
denn der Film zeichnet lediglich das Abschlussjahr Jeffrey Dahmers an
seiner Highschool nach und ist damit eher eine Highschool-Geschichte
mit den üblichen Typen, und zwar eher im Stil von "American
Graffiti" als von "American Pie". Insofern geht es viel um
Rollengefüge und das Streben nach Akzeptanz und Anerkennung in einem
Mikrokosmos, der nur wenig Abweichungen zulässt. Und da wir ja auf dem
Fantasy Filmfest und nicht beim „Kleinen Fernsehspiel“ sind wird
das alles sehr unterhaltsam, mitunter spannend und vor allem mit viel
Liebe zum 70er-Jahre-Detail inszeniert.
Hounds
of Love
Am
letzten Tag am Nachmittag versteckte sich dieser Schlag in die
Magengrube. Menschliche Abgründe, wie sie auf dem FFF alle Jahre
wieder serviert werden. Am ehesten musste ich an den unvergesslichen "An American Crime" aus dem Jahr 2007 denken, der selbst hartgesottene Dauerkartenbesitzer zum Weinen brachte. Wobei dieser Film
in Australien spielt und zeigt, dass die Abgründe universell sind.
Killing
Ground
Für mich der
beste Thriller des Festivals. Ein Pärchen will sich ein schönes
Wochenende machen und zeltet in der freien Natur. Kann ja nur
schiefgehen. Kennt man, wird hier aber extrem spannend einmal mehr
durchgespielt.
Marlina
the Murderer in four Acts
Das
hingegen kannte ich noch nicht: ein feminsitischer, philippinischer
Rachefilm in Stile eines Italowesterns. Langsam erzählt, weshalb man
die exquisiten Bildern so richtig in sich aufsaugen kann, mit
lakonischem Humor und toller Musik. Konsequent bis zum Ende, überzeugender als
jede Me-too-Kampagne und damit im Jahr 2017 brandaktuell. Läuft seit gestern übrigens im Kino.
Ich
gebe zu, ich hatte den Film nicht auf dem Zettel. Warum weiß ich gar
nicht, denn Christopher Nolan hat mich bisher eigentlich noch nie
enttäuscht. Vermutlich weil ich keine Lust auf Kriegsfilm und WW II
hatte. Ich Narr. Denn "Dunkirk" funktioniert als durchaus auch als Anti-Kriegsfilm, weil
er die Strapazen, Verzweiflung und Sinnlosigkeit von Kriegen en
passant schildert. Zugleich ist er ein unglaublich spannender Film zum Thema Überleben. Das Tempo ist atemberaubend und
Nolan gönnt dem Zuschauer nur wenig Ruhepausen, der Score von Hans
Zimmer tut sein Übriges um zu verhindern, dass man im Kinosessel entspannt. Unglaublich intensiv, packend und zugleich klar in der
Aussage. Ein echtes Meisterwerk.
Jackie
Vor
ein paar Jahren bin ich über den Film "No!" des chilenischen
Regisseurs Pablo Larrain gestolpert. Im Jahr 2017 hatte der Mann
gleich zwei Filme in den deutschen Kino. Einer war "Jackie", in dem es um die
Tage nach der Ermordung John F. Kennedys aus der Sicht seiner Witwe
Jackie geht. Wer hier ein Melodram à la Hollywood erwartet hat,
wurde vermutlich bitter enttäuscht. Larrain stellt vielmehr den Antagonismus von Privatem und Öffentlichen am Beispiel Jackie
Kennedys heraus und feiert sie in ihrem souveränen Umgang mit der
Situation. Die Mischung aus politischen Film mit universeller
Aussage und persönlicher Geschichte mit emotionalen Momenten (an
dieser Stelle muss Natalie Portmans feine Darstellung in höchsten
Tönen gelobt werden) hat den Film für mich zu einem extrem
spannenden gemacht. Und einmal mehr ist Larrain ein Meister der
Bildgestaltung. War es in „No!“ die verwackelt unscharfe
VHS-Ästhetik sind es hier die vielen Close Ups Natalie Portmans, die
dem Zuschauer fast schon eine Komplizenschaft mit Jackie Kennedy
aufzwingen. Ein intellektuell wie visuell stimulierender Film. Kino
für Fortgeschrittene.
Wilde
Maus
Ich
bin ein Fan von Josef Hader, ich gebe es zu. Und ich habe mich sehr
gefreut, ihn einmal nicht als Ex-Polizist Brenner im Kino zu sehen.
Zwar ist auch die Hauptfigur in "Wilde Maus" ein Verlierer, aber einer, der es einem schwer macht, ihn sympathisch zu finden. Der heilige
Zorn des entlassenen Kulturkritikers, den Hader darstellt, ist zu
Beginn noch nachvollziehbar, doch im Laufe des Films kann einem das
Selbstmitleid des Anti-Helden schon auf den Nerv gehen, zumal sein
Rachefeldzug ziemlich stümperhaft ausgeführt wird. Insofern ist "Wilde Maus" etwas sperriger als die Brenner-Verfilmungen, aber
wer Hader kennt, weiß, dass er sein Publikum gerne fordert. Ich habe die Herausforderung gerne angenommen und mein diebisches Vergnügen an dem Film gehabt.
Personal
Shopper
Alle
Jahre wieder gibt es einen Film, der mich in der richtigen Stimmung
erwischt. Kristen Stewart spielt eine Amerikanerin in Paris, die für
eine Diva die titelgebende persönliche Shopperin ist, ihren Job nicht mag und
außerdem versucht, mit ihrem verstorbenen Bruder spirituellen
Kontakt herzustellen. Klingt furchtbar? Mag sein. Aber Olivier
Assayas weiß, was er tut, und ich fand den Film, ähnlich wie "The
Neon Demon" im vergangenen Jahr einen gelungenen Beitrag zum Thema
Sinnsuche in einer Welt der Oberflächlichkeiten. Definitiv keine
Empfehlung für den entspannten Videoabend, sondern Arthouse-Kino im
besten Sinne, das einen offenen Zuschauer fordert und zugleich
belohnt.
Neruda
Larrains
zweiter Film im Jahr 2017 schildert das Katz- und Maus-Spiel zwischen
dem Dichter Pablo Neruda und einen ihn verfolgenden, verkniffenen chilenischen Staatsbeamten. Einmal mehr nicht sehr linear, einmal mehr wählt
Larrain den schweren Weg und baut allerlei surreale und retardierende
Momente in die an sich geradlinige Handlung ein. Denn es geht ihm
hier um zwei archetypische Antagonisten, den Apparatschik und den
Revolutionär, den Biedermann und den Bohemien. Die beiden können
nicht miteinander, aber letztlich auch nicht ohneeinander, weil sie
füreinander sinnstiftend sind. Und auch hier treffen Politisches und
Privates wieder aufeinander, und zwar in einem bildgewaltigen und visuell ausgeklügelten Film.
Hunt
for the Wilder People
Ach,
all dieser verkopfte Arthouse-Mist. Kann der König nicht mal was
Unterhaltsames empfehlen? Klar! "Wo die wilden Menschen wohnen" oder, wie er auf den White Nights des Fantasy Filmfests hieß und im
Original heißt „Hunt for the Wilderpeople“. Die Story: ein
übergewichtiger Waisenknabe mit Gangsterallüren wird vom Jugendamt
an eine gutherzige Frau und ihren knorrigen Gatten in der
neuseeländischen Wildnis in Pflege gegeben. Die Frau stirbt und das
ungleiche Gespann aus Alm-Öhi und dauerlaberndem Teenie muss
fürderhin alleine klarkommen. Regisseur Taika Waititti, der in dem
Film auch einen genialen Auftritt als Priester hat, bescherte und
bereits „What We Do in the Shadows“ („5 Zimmer, Küche, Sarg“),
und sein trockener, skurriler Humor durchzieht auch dieses Film, der
aber gleichzeitig an jeder Stelle ein Herz für Freaks hat und gerade
in seinem zweiten Teil, wenn die titelgebende Jagd eigentlich erst
beginnt, wohlige 80er-Jahre-Reminiszenzen hervorruft. Ein Film, den
man einfach lieb haben muss.
Und der Trailer hinterher, denn der allein ist schon ein Riesenspaß:
Hitlers
Hollywood
Rüdiger
Suchsland Film zum Kino der Nationalsozialisten ist weniger
Dokumentation und mehr Essay. Er sucht nach den typischen Elementen
der NS-Filme und versucht so den Kern des Nazikinos zu finden. Die
gewählten Filmausschnitte sind faszinierend, die Fülle an Material
überbordend – und Suchslands Kommentar fast immer auf den Punkt
(und nicht ohne Humor, wenn er Marika Rökk als „Brummkreisel mit
Gummigelenken“ beschreibt). Kein Doku-Kino für Lesefaule, sondern
anregende Gedanken und grandios ausgewählte Filmbeispiele.
Das
fünfte Element
Der
einzige Film, den ich in diesem Jahr im Kino gesehen habe und den ich
in meiner Liste mit voller Punktzahl bewertet habe, ist, wie ich
gerade feststelle, „Das fünfte Element“, der zu seinem
20jährigen Jubiläum eine kurze Wiederbelebung auf der großen
Leinwand erfuhr. Ist zwar 100% 90er ist, hat mich aber dennoch über
seine gesamte Laufzeit blenden unterhalten. Oder vielleicht ja gerade
deshalb.
Weitere
gute Filme:
Room
Wollte
ich ewig nicht sehen, möchte ich bitte nicht noch mal sehen. Ist
aber wirklich ein unglaublich intensiver und berührender Film über
Elternliebe in einer Situation, die nicht extremer sein könnte. Für
Mutige.
T2
– Trainspotting 2
Konnte
nicht so gut werden wie das Original, aber das war wohl allen
Beteiligten klar. Und mir auch. Und so genoss ich dieses guilty
pleasure, erfreute mich am Wiedersehen mit allen fünf Überlebenden
und nahm erfreut zur Kenntis, dass die Geschichte ganz gut
funktioniert. Well done, Danny Boyle.
Die
Taschendiebin
High-End
Kostümschinken von meinem Lieblingskoreaner Chan-wook Park. Erstaunlich freizügig, bisweilen etwas schwülstig, ansonsten aber vor allem gepflegte Unterhaltung mit feinster Optik, guter Story und furchtlosen Darstellerinnen.
Der
Stern von Indien
Geschichtskino
für Lesefaule wie mich, das ein unrühmliches Kapitel aus der
Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert beleuchtet. Wo "Ghandi" in einem Happy End mündet, setzt dieser Film an und
zeigt die Schwierigkeiten und politische Verwerfungen im Zuge der
Entkolonialisierung und damit einhergehenden Teilung Indiens. Nicht ganz frei von simplifizierender Personalisierung, und
damit besonders gegen Ende zunehmender Melodramatik, ist der Film
über weite Strecken vor allem ein spannender Politkrimi, der im Kino zu Unrecht ziemlich unbeachtet geblieben ist.
It
Der
Hit vom diesjährigen Fantasy Filmfest. Da war sogar der große Saal Nummer 6 im Frankfurter Platzhirschkino mal wieder ausverkauft. Nicht zu unrecht, denn die Neuverfilmung von
Stephen Kings Megaschinken aus den Achtzigern ist sehr gelungenes Horrorkino (und machen
wir uns nichts vor: bei allen „Stand By Me“-Referenzen steht der
Horror hier immer klar im Vordergrund). Und zwar durchaus moderndes
Horrorkino mit Jump Scares und einigen Härten. Vielleicht will der
Film am Ende etwas zu viel, aber andererseits gelingt es ihm, das
Buch so einzudampfen, dass dessen Geist erhalten bleibt, der Film
aber dennoch seinen eigenen Weg geht.
The
Limehouse Golem
Und
noch ein Film vom Fantasy Filmfest mit einem kleinen Kinostart. Bill
Nighy in einer erfreulich großen Rolle in diesem mit Liebe zum Detail
gemachten Murder Mystery aus dem England des 19. Jahrhundert. So
mancher Gewaltexzess stört etwas in diesem historischen Ambiente,
aber insgesamt ein erfrischend altmodischer Unterhaltungsfilm mit
einigen Schauwerten und toller Musik, für den man gerne ins Kino
geht.
Three
Billboards Outside Ebbing, Missouri
Hier hatte ich bereits Anfang Dezember das Glück einer Preview. Frances
McDormand, Sam Rockwell und Woody Harrelson in einem Film, der allen
dreien hervorragende Rollen gibt. Großes Schauspielerkino mit viel
schrägem Humor, das sich am Ende zwar etwas in seiner Story
verheddert, über weite Strecken aber wirklich sehr viel Spaß macht.
Blade
Runner 2049
Denis
Villeneuve geht die Blade-Runner-Fortsetzung ziemlich elegisch an.
Wenn man sich an das nicht gerade hohe Tempo im ausführlichen
Mittelteil gewöhnt hat, kann man sich aber dem optischen und
akustischen Genuss, der diesem Regisseur einmal mehr gelingt, voll
hingeben. Okay, die Botschaft ist die alte und die Frage, was das
Menschsein eigentlich ausmacht, fand ich in "Arrival" interessanter bearbeitet, aber manchmal kann man sich ja auch nur der
Ästhetik hingeben.
Enttäuschungen und überschätzte Filme:
Mother
Darren
Aronofskys neuester Film beginnt interessant als Kammerspiel, das an "Who‘s Afraid of Virginia Woolf?" erinnert, läuft dann aber
im letzten Drittel dermaßen aus dem Ruder, dass es nur noch
unfreiwillig komisch wirkt. Eine ganz eitle Nummer ohne Substanz und
mit viel Getöse. Da habe ich mich echt geärgert.
The
Killing of a Sacred Deer
Okay,
der Regisseur ist Grieche und die rituelle Tötung des heiligen
Hirsches stammt aus einer griechischen Tragödie. Aber dass es
Regisseur Yorgos Lanthimos darum ging, eine moderne Tragödie um einen Mann zu schaffen, der
Schuld auf sich geladen hat und dafür büßen muss, kann ich
irgendwie nicht glauben. Dafür agieren alle Beteiligten – außer
Nicole Kidman an einzelnen Stellen – zu artifiziell, dafür gibt es
zu viele skurril komische Momente (okay, ich habe als einziger
gelacht als der Sohn aus dem Krankenhausbett fällt, weil er zum
Fenster gehen möchte, aber an sich ja seine Beine nicht bewegen
kann. Das war komisch, auch wenn ihr euch alle nicht getraut habt zu
lachen, ihr Karlsruher Arthouse-Kinogänger, die ihr vom deutschen
Feuilleton eingeschüchtert wart). Nein, sorry, wenn das ernst
gemeint war, ist es eine Luftnummer. Optisch super, das stimmt, aber inhaltlich hätte
ich mir - gerade nach "the Lobster" - mehr erwartet.
Get
Out
Voll auf der Höhe der Zeit mit seiner Rassismus-Thematik, noch
dazu weil er sich so elegant und amüsant verpackt, dieser nette,
kleine Film mit ironischem Augenzwinkern. Aber ganz ehrlich: am Ende
will "Get Out" ein Horrorfilm sein. Das ist er, solide und unterhaltsam ist er auch. Aber weder ist er ein großes Meisterwerk noch so
intelligent wie allerorts zu lesen war.
Planet
der Affen – Survival
Überwältigungskino
mit dem üblichen Problem einer zu langen Laufzeit, zahlreichen
Redundanzen und einer etwas sehr geradlinigen Handlung. Trotzdem war die
Kritik voll des Lobes, nicht nur über die tolle Technik, sondern
auch über die tolle Botschaft. „Der Mensch ist das schlimmste
Raubtier von allen“. Ah ja. Kalenderblatt lässt grüßen.
Atomic
Blonde
Spielt
im Berlin der 80er. Cool. Bzw. hätte cool werden können, wenn man
sich ansatzweise ein bisschen Mühe gegeben hätte und nicht die
ganze Energie auf ermüdende Kampfsequenzen der Superlative gerichtet
hätte. Ja ja, die ungeschnittene Kampfszene im Treppenhaus.
Beeindruckend. Aber Jahre nach Brian de Palma und "The Raid" eben auch
nicht mehr wirklich neu. Und wenn der Rest des Films darum sowohl
belanglos als auch schlampig bis lieblos ist, bleibt am Ende nicht mehr viel übrig. Ich verweise nur mal auf den Soundtrack, der wirkt, als habe jemand in der
Mittagspause mal kurz den „Best of 80s“-Sampler vom Wühltisch
zufallsmäßig durchgeskippt und fertig war die Laube. Ein Film als
Produkt, insgesamt ziemlich unsympathisch.
Girl
on the Train
Vermutlich
hätte ich das Buch nicht vorher lesen sollen. Denn von Paula
Hawkins' abgründigem Roman mit einer unzuverlässigen Erzählerin,
der der Leser irgendwann auch nur noch schwer vertrauen kann, ist in
dieser straighten Krimiverfilmung nicht mehr viel übrig. Konventionell und entbehrlich.
Der
junge Karl Marx
Don‘t
get me started. Da kann auch August Diehl nichts mehr retten. Der
arme Marx als Kostümschinken für lesefaule Schüler und tüttelige
Rentnerinnen. Gut gemeint, aber so typisch deutsch gemacht, dass man
nur die Hände vor's Gesicht schlagen kann, wenn man nicht schon
auf der Hälfte dieses überlangen Lehrstücks eingeschlafen ist.
Öde, langweilig, überflüssig.
DVD-Entdeckungen:
Midnight
Special
Wie "E.T." ohne diesen hässlichen, kleinen Außerirdischen. Oder wie
dieses Jugendbuch "Die Kinder vom anderen Stern" aus den Siebzigern,
falls das noch einer kennt. Hat mich damals schwer beeindruckt. Immer
noch nicht überzeugt? Na gut: Michael Shannon in einem
Jeff-Nichols-Film. Muss ich noch mehr sagen?
A Hijacking
Tobias Lindholm - ein Name, den man sich merken sollte. Extrem spannend und sehr
realistisch erzählt der Film des besagten Herrn, wie ein dänischer Frachter von
somalischen Piraten gekapert und um das Lösegeld gepokert wird.
Dabei werden alle Perspektiven beleuchtet, die Beweggründe aller
Beteiligten nachvollziehbar – und somit die ganze Tragweite von
etwas deutlich, das man aus den Nachrichten seit Jahren kennt, ohne
sich vermutlich jemals darüber Gedanken gemacht zu haben, was es für
die Betroffenen bedeutet.
A
Serious Man
Da
meine Liebe für die Coen-Brüder über die Jahre mehr und mehr
abgekühlt ist, ist mir dieses Juwel im Kino durch die Lappen
gegangen. Dabei ist "A Serious Man" Coen-Brüder in Reinform.
Düsterer, lakonischer Humor, schräge und oft wenig sympathische
Typen in der Provinz und eine Hauptfigur, für die alles schiefgeht.
Jerry Lundegaard lässt grüßen. Wobei hier an sich die biblische Hiob-Geschichte erzählt wird, aus Religionslehrersicht durchaus
ernstzunehmend, aber zugleich als Fest für den Coen-Brüder-Freund. Ich
hatte wirklich sehr viel Spaß.
Höhere
Gewalt
Ein
Familienvater ruiniert seine Ehe, als er im Moment einer
scheinbaren Lawinenkatastrophe nicht zuerst an seine Familie denkt, sondern
an sich selbst. Interessante Prämisse, die in der Geschichte zum
Glück zunehmend skurril durchgespielt wird, so dass bis zum Ende
keine Langeweile aufkommt.
Side
Effects
Steven
Soderbergh kann's noch. Es beginnt wie eine Satire auf den
Medikamentenwahn unserer Zeit, in der es für jeden stressbedingten
Tick ein Mittelchen gibt, und wendet sich dann zu einem
Mystery-Thriller im Hitchcock-Stil. Spannende, gehobene Unterhaltung
für Erwachsene mit exzellenten Darstellern.
Wiedersehen machte Freude:
El Cuerpo - The
Body
Mörderland
– La Isla Minima
Fanden
alle super, habe ich endlich nachgeholt und war sehr begeistert:
Searching
for Sugarman
Prisoners
Spotlight
Rush
Audition
Und dann gab es ja auch noch das Fantasy Filmfest, doch dazu beim nächsten Mal mehr.
Wie
autobiographisch sind eigentlich diese Jahrescharts? Nun, einerseits natürlich sehr, denn
jedes der Lieder, das ich auf CD gebannt habe (Pst, Kids, CDs, das sind die silbernen Scheiben, die eure Eltern in so komische, große Geräte legen, um Musik zu hören), hat im Jahr 2017 eine Rolle für mich gespielt, aber andererseits eben oft nicht so vordergründig,
wie der Song vielleicht nahelegt. “Angst Angst
Overkill” bedeutet nicht, dass ich demnächst mit einer Apokalypse rechne, oder
Benjamin Biolays “Roma”, dass ich plötzlich geschmacklich einen an der Waffel habe. Es gibt für alles Gründe, und im Folgenden werden sie
erklärt.
01
Maurice & die Familie Summen feat. Kryptik Joe: Zeit zurück
Und
gleich mal eine Nummer direkt aus meinem Leben: das ist die Welt des Mittvierzigers, der zurück in die gute alte Zeit seiner Jugend will,
die neutral betrachtet aber vielleicht doch gar nicht so gut war; der
leicht melancholische Blick auf die eigene Vergänglichkeit, aber
nicht als betroffener Indie-Folksong, sondern als superfunkige
Hüftschwing- und Arschwackelnummer von Die-Türen-Sänger Maurice
Summen zusammen mit größerer Band und dem einem Herren, dem man von Deichkind kennt. Ein großer Spaß.
02
Future Islands: Ran
Der
große Hype scheint vorbei zu sein, denn Future Islands erhielten
2017 vielerorts nur noch lauwarme Reviews für ihr neues Album.
Hauptvorwurf: klingt wie das letzte. Ah ja. Stört mich nicht. Gerade
in „Ran“ kommt die Könnerschaft dieser Band einmal mehr auf das
Schönste zum Vorschein: der sehnsuchtsvolle, flächige Elektrosound
und darüber der stets über den Punkt melodramatische und exaltierte
Gesang Sam Herrings. Trifft bei mir auch in der Wiederholung wieder mitten ins Herz.
03
J. Bernardt: Wicked Streets
Zweites
Jahr der Balthazar-Pause, erster Solo-Output von Sänger Nummer zwei.
Nicht nur live war J. Bernardt mit dieser Nummer auf dem
Maifeld-Derby ein absoluter Höhepunkt, auch das Video und der reine
Song haben mich das ganze Jahr über begleitet. Auch hier wieder eine
Nummer zum Hüfteschwingen, betont lässig gesungen und mit
schwebenden Synthie-Violinen, die wiederholt von einem Bläserbums
unterbrochen werden, der für mich den eigentlichen Suchtfaktor des Stückes
darstellt. So großartig, dass es der an sich auch sehr gute Song
„Mad World“ des anderen Balthazar-Sängers nicht auf diese
Zusammenstallung schaffte (Das wäre mit Spotify nicht passiert, und
genau deshalb bleibe ich bei der CD, Kids!).
04
Andreas Dorau: Ossi mit Schwan
Man
muss ihn einfach ehren und preisen, wo man kann, den Herrn Dorau.
Einmal mehr bleibt der Mann sich treu und singt kein Liebeslied,
sondern vertont eine Meldung aus dem „Aus aller Welt“-Teil eurer
örtlichen Tageszeitung. Gewalt gegen Ossis und Schwäne, musikalisch
lieblich und poppig verpackt. Musik mit dem Humor, der der schwerstseriösen aktuellen deutschsprachigen Popmusik ansonsten leider größtenteils fehlt. Ich musste beim Hören gerade schon wieder lachen. Und für die
Verwendung des vom Aussterben bedrohten Wortes „Grobian“ danke
ich Andreas Dorau auch.
05
Kreidler: Boots
Okay,
ich gebe zu, ich habe so meine Schwierigkeiten damit, ein
Instrumentalalbum mit elektronischer Musik als Ausdruck von Protest
zu begreifen. Kreidler sehen ihr 2017-Album „European
Song“ allerdingsso, und wer bin ich, den Künstlern zu widersprechen? Dann eben Protest. Ich
habe mich allerdings vor allem darüber gefreut, dass es ein neues Album gab,
dass es zudem das beste Cover aller Kreidler-Alben hat und dass mit
„Boots“ eine kickende, hübsch aggressive Nummer dabei ist, die
sich in die Reihe meiner anderen Lieblingstracks der Band von
„Kremlin Rules“ bis „Alphabet“ nahtlos einreiht.
06
Romano: Raupe
Der
blond bezopfte Rapper aus Köpenick schaffte es in diesem Jahr nicht
nur, mich zum zweiten Mal live komplett für sich einzunehmen, mit
„Raupe“ hat er auch einen Song auf seinem neuen Album, der sich
von den anderen eher auf Party abzielenden Nummern abhebt. Textlich
zwischen Jacques Palminger und dem Fantasy Filmfest angesiedelt,
wabert der Song auch musikalisch recht unangenehm daher und wird
gerade dadurch interessant.
07
Tristesse Contemporaine: Dem Roc
Nachdem
der Plattenhändler meines Vertrauens das neue Album meiner
Dauerlieblinge Tristesse Contemporaine monatelang nicht liefern
konnte, habe ich es erst mit erheblicher Verzögerung im Laufe des
Jahres wahrgenommen. Insofern würdige ich es auch auf der
Lieblinge-CD, auch wenn ein Song bereits die 2016er-Version zierte.
„Dem Roc“ unterschreitet lässig die Drei-Minuten-Marke. Der Song hat es eilig. Drängend, leicht hektisch und monoton
zugleich, vor allem tanzbar und den Adrenalinpegel erhöhend – wie
geht so was? Keine Ahnung, aber dieses Trio schafft es einmal mehr
seine unterschiedlichen musikalischen Hintergründe gekonnt im
Dienst eines außergewöhnlichen Songs zu stellen. Und ich verweise
auch noch mal den wunderbaren Text: „Dem roc, and we rock, they
never gonna rock what we got, what we got is sweeter, yeah we turn
the heat up“. Eben.
08
Benjamin Biolay: Roma
Midlife
Crises? Zu lange in der Sonne gesessen? Egal. Benjamin Biolay folge
ich in jeden Irrsinn. In den letzten beiden Jahren hat der
Retter des französischen Chansons gleich zwei Alben (wie üblich mit
viel zu vielen Lieder) veröffentlicht, auf denen er spanischer bzw.
südamerikanischer Musik huldigt. Wobei er vor nichts zurückschreckt.
Schwülstiger Kitsch, Zigeunerromantik, Rondo-Veneziano-Geigen und
spanischsprachige Gastrapper. Im Video setzt er dem Ganzen noch eins
drauf. Herrlich. Einer meiner beiden Lieblingsongs des diesjährigen
Frankreichurlaubs, wo musikalisch alles erlaubt ist, solange es
sommerliche Gefühle beschwört. P.S.: ganz Mutigen empfehle ich nach dem Genuss dieses Liedes mal „La noche ya no existe“. Da legt Biolay
noch 'ne Schippe drauf.
09
White Wine: Killer Brilliance
Womit
wir beim musikalischen Höhepunkt des Jahres wären. Die veritabel
durchgeknallten (siehe Video) White Wine, die ich live seit Oktober
2016 mehrfach versäumt habe, deren Songoutput ich mir aber nach und
nach erschlossen habe. Gitarre, Fagott und Glockenspiel in einem
Indierock-Song, der intelligent komponiert, aber nicht zu verkopft
daherkommt. Dazu ein Gesang mit hohem Wiedererkennungswert und eine
Dramatik, die auch bei mehrfachem Hören keine Langeweile aufkommen
lässt. Müsste ich wählen, das wäre mein Song des Jahres und White Wine meine Lieblingsband.
10
Peter von Poehl: Inertia
Ein
Mann, den ich gar nicht auf dem Zettel hatte. Woher auch? Peter von
Poehl ist ein Schwede, der vor ein paar Jahren wohl mal einen Minihit
hatte und der jetzt in Frankreich lebt, wo er seine Musik aufnimmt
und auch auftritt. Welch ein Glück, dass einer dieser Auftritte im
Mai in Toulouse stattfand und ich im Rahmen eines Austausches mit
zahlreichen entfesselten Siebtklässlern dort war. Nicht nur das
Konzert war herausragend, auch auf dem
aktuellen Album von Poehls finden sich einige exquisite Stücke, so
wie dieser schöne und elegante Song, dem man allenfalls vorwerfen kann, dass er fast ein wenig zu
perfekt klingt. Kitsch ist keine Kategorie hier.
11
Julien Doré: Coco Caline
Franzose
Nummer zwei auf diesen Jahrescharts ist auch ein alter Bekannter.
Julien Doré gelang mit Coco Caline und dem dazugehörigen Album in
seinem Heimatland wohl endlich der verdiente Durchbruch. Konzerte in
großen Hallen und ein omnipräsenter Song, den man auf dem Weg zum
Strand von La Grande Motte aus so manchem Handy quäken hören
konnte. Dass Doré seine Kernkompetenz Selbstironie für den Erfolg
nicht aufgeben musste, freut mich doppelt. Das minimalistische Video
zu Coco Caline erfreute die ganze Familie König im Urlaub mehrfach.
P.S.: ein wahres Kunstwerk an Kurzfilm ist „Sublime et Silence“,
das der geneigte Betrachter sich unbedingt auch anschauen sollte:
12
Friends of Gas: Graue Luft
Ach
Mist, jetzt habe ich mich mit der Lieblingsband ja schon auf White
Wine festgelegt. Dabei sind doch eigentlich Friends of Gas meine Band des Jahres. Diese absolut furchtlosen, schönen,
jungen Menschen versprühen so viel jugendliche Aggression,
musikalisch wie textlich, dass ich mich frage, warum ich eigentlich
so auf sie abfahre. Die Antwort findet sich vermutlich im ersten Song
dieser dieser Zusammenstellung. Stichwort: "alte Zeit zurück, tick tack". Mich kickten die Friends of Gas im Jahr 2017 nicht nur
live, sondern auch daheim, auf dem Weg zur Arbeit oder beim
Verarbeiten der letzten Gesamtkonferenz. Egal ob Album oder dieser
Track, den man meines Wissens bisher nur im Internet findet, einfach
großartige Musik voller Energie und mit wunderbar verstörenden Texten („Und als
ich rausging war ich voller Käfer, als ich rausging war es anders,
...anders“).
13
Ruby: Paraffin (Red Snapper Mix)
Kurz
mal durchatmen. Inspiriert vom allerallerbesten Konzert des Jahres im
Oktober in London habe ich mein CD-Archiv nach den obskureren
Red-Snapper-Tracks durchforstet und bin dabei auf diese wunderbare
Nummer aus dem Jahre 1995 gestoßen. Auf einer Remix-Platte der
längst vergessenen Triphop-Combo Ruby findet sich dieses
Meisterwerk, das dem Original Referenz erweist, gleichzeitig aber,
vor allem mit dem Double Bass, deutliche Red-Snapper-Elemente
aufweist. Ein perfekter Remix, ein sehr hörbarer Song, der zudem zeigt, welches Potential dieses kurzlebige Genre eigentlich hatte.
Mein schönstes Wiederhör-Erlebnis des Jahres.
14
Messer: Der Staub zwischen den Planeten
Messer
hatte ich über Facebook in diesem Jahr ja auch schon mal lautstark
zur besten Band des Jahres gekürt. Zum Glück nur zur besten
deutschsprachigen, denn sonst würde ich ja langsam unglaubwürdig werden mit
diesen ständigen Superlativen. Doch Anfang des Jahres war ich schon ziemlich im Messer-Fieber, was vor allem auch damit zu tun hatte,
dass nach dem exzellente Konzert Ende 2016 in Wiesbaden ein nicht
minder exzellentes im April 2017 in der Darmstädter Oettinger Villa
folgte. Ein Dreivierteljahr später ist es vor allem dieser Song, den ich nach wie vor ungebrochen liebe.
15
Nicolas Sturm: Angst Angst Overkill
Nicolas
Sturm hat mich in diesem Jahr mit einigen Songs beeindruckt. Das
klare politische Statement in „Im Land der Frühaufsteher“
verdient Respekt, „Lichtjahre“ ist ein wunderbar melancholisches
Lied über die Sehnsucht danach, etwas zu erleben – und beide Songs
hätten hier ebenso vertreten sein können. Meine Entscheidung fiel
aber auf das Titelstück, da sich dieses anfühlt, als wäre es aus
meiner Jugend: „Das Neonlicht malt Risse in dein Gesicht; was du
hast gefällt dir nicht, und was du willst, bekommst du nicht“. Ja,
so hat sich das angefühlt in den späten 80ern in der badischen
Provinzmetropole. Woher weiß Nicolas Sturm das? Und wie gelingt es
ihm, diesen Geist nicht nur textlich, sondern auch musikalisch in
seinem Song zu transportieren? Wer deutschsprachige Indiemusik schätzt und es musikalisch durchdacht mag, sollte sich das Album mit diesem
Song mal anhören. Wächst mit jedem Hören, so dass Nicolas Sturm
für mich eine er größten musikalischen Entdeckungen des Jahres
ist.
16
Intergalactic Lovers: River
Ich
würde es ihnen ja gönnen, wenn sie mit Album Nummer drei endlich
den großen Durchbruch schaffen würden, die Intergalactic Lovers.
Denn ich mag sowohl die Band als auch ihre Musik. Denn das ist
zwar Popmusik, aber die Art von Pop, der nicht am Reißbrett
entsteht, sondern Substanz hat, gereift ist und auch bei
mehrfachem Hören nicht langweilig wird, sondern im Gegenteil wächst.
Weil man noch eine Nuance entdeckt, weil der Gesang auch bei
hundertsten Mal noch schön ist, weil die Mischung aus Leichtigkeit
und Dramatik genau passt. Und wenn man ins ZDF-Morgenmagazin gehen
muss, um einer größeren Anzahl von Leuten diese Qualitäten klar zu
machen (weil die Musik für's Formatradio eben immer noch zu
sperrig ist), dann bitte sehr. Wenn es dazu dient, dass in Wiesbaden
150 Leute zum Konzert kommen statt wie vor ein paar Jahren nur 10, kann ich das nicht
schlecht finden.
17
Die Sonne: Alles muss wachsen
So,
genug entspannt. Kehren wir zurück zu den eher unangenehmen Texten.
Gegen Ende des Jahres kam ich in den Genuss des zweiten Albums von
Die Sonne. Auch hier hätte ich wieder diverse Titel auswählen
können. Denn diese Platte ist fantastisch. Für den geneigten
Zuhörer zumindest. Oliver Mincks Texte sind abgründiger denn je, düstere Wahrheiten zu allen möglichen Themen. Die düsterste hier.
Der Song für alle, die Christian Lindners FDP gewählt haben und den
Klimawandel für eine Erfindung der Grünen halten. Für alle, die den
Schwachsinn glauben, dass man alles erreichen kann, wenn man nur
will. Für alle, die immer noch einem rücksichtslosen Individualismus anhängen und glauben, dass sie so glücklich werden können. Für euch gilt: "macht
euch jetzt endlich mal Sorgen".
Für den Text hier eine Liverversion von 2014. Klingt drei Jahre später leicht umarrangiert musikalisch wesentlich besser.
18
Family 5: Stolpere nicht
Und
wenn ich mich jetzt schon so weit geöffnet habe, kann ich auch noch
den guten, alten Peter Hein nachschieben. Manifest und Mantra in
einem. Für die Guten da draußen: wenn ihr zweifelt, hört dieses
Lied. Ihr macht alles richtig. Bussi - und bis nächstes Jahr