Inzwischen wird man von den Machern des Fantasy Filmfests ja eigentlich das ganze Jahr über gut betreut. Zwei Wochenenden im Januar bzw. April verkürzen die Wartezeit auf das große Festival im Sommer, das inzwischen 11 Tage dauert. Da sind selbst in eher schwachen Jahren immer einige Entdeckungen dabei, von denen die meisten nicht den Weg ins Kino finden. Um diese schönen Filme soll es hier gehen.
Bereits im Winter bzw. Frühling liefen bei den White Nights bzw. Nights jeweils zwei Filme, die es sich lohnt hervorzuheben.
The Invisible Guest
Oriol Paulo, Regisseur des nicht minder zum Miträtseln einladenden Films "The Body", hat hier einen temporeichen Krimi inszeniert, den selbst Tatort-Hasser wie ich lieben können. Exzellentes Timing, zahlreiche Drehungen und Wendungen, die aber nie zu weit hergeholt sind. Ich habe auch beim zweiten Gucken keine Logiklöcher entdecken können und damit gleich hatte zweimal großen Spaß an diesem spannenden und intelligenten Film.
The Transfiguration
Weniger zugänglich, aber sehr faszinierend fand ich diesen Vampirfilm im Stile eines britischen Sozialdramas. Oder war es ein Sozialdrama im Stil eines Vampirfilms? Egal, „Vampir“ ist hier einmal mehr die passende Metapher für einen Außenseiter, und der Film ist so britisch, dass der geneigte Englischlehrer jubelt.
Sweet Sweet Lonely Girl
Sehr stimmungsvoller Low-Budget-Gruselfilm mit dezenten Dario-Argento-Anleihen. Weit weniger aufdringlich als Filme wie "Amer" - und damit auf die Dauer auch weit weniger nervig: Denn der Film will nicht nur ein Stilfeuerwerk sein, sondern erzählt auch gekonnt eine Geschichte von Einsamkeit und der Sehnsucht nach Freundschaft und Liebe. Jump-Scare-Freunde waren enttäuscht, Arthouse-Fans (wie ich) nicht.
Going to Brazil
Das sommerliche Filmfest fand für mich dann zwar mit Dauerkarte, aber unter erschwerten Bedingen statt: laufender Schulbetrieb, davon drei volle Tage Prüflesen für‘s Landesabitur in Wiesbaden, und an einem der Wochenenden auch noch das Golden Leaves Festival in Darmstadt, das zu besuchen inzwischen praktisch Familientradition geworden ist.
Insofern
war der Blick ins Programmheft nun, einige Monate danach, interessant, denn
so schwach wie ich ihn in
Erinnerung hatte war der 2017er-Jahrgang gar nicht. Vielmehr war die Ablenkung so vielfältig, dass offensichtlich einfach meine Erinnerung schwach war. Daher hier, mit aufgefrischter
Erinnerung, noch die Highlights.
Raw
Eigentlich
mein Lieblingsfilm dieses Jahrgangs. Eine radikale
Coming-of-Age-Geschichte, die Kannibalismus als Metapher nutzt und
nicht davor zurückschreckt, ihn zu zeigen, wenn es der Geschichte und
ihrer Atmosphäre dient. Über die individuelle Ebene hinaus bietet der
Film auch einige Seitenhiebe auf Leistungsorientierung und Normierung
im Bildungssystem. Eine ziemlich rohe Welt, die Raw da zeigt (*Tusch*
für‘s Wortspiel), und leider eine ziemlich reale.
A Sicilian Ghost Story
Pure
Poesie bietet diese italienische Geister-, Mafia- und erneut
Coming-of-Age-Geschichte. Sehr stimmungsvoll, sehr metaphysisch und
doch nie in die Kitschfalle tapsend. Eine große Geschichte für die
große Leinwand und einer dieser Genrehybride für die ich das
Filmfest nach wie vor liebe.
Land of the Little People
Die
Referenz "Lord of the Flies" wurde in Programmheft und Gesprächen
im Kino oft bemüht und sie ist unübersehbar. Nur dass die
Jugendlichen in diesem israelischen Film nicht auf einer Insel auf
sich selbst gestellt sind, sondern in einem zivilisierten, aber von
fortwährenden kriegerischen Auseinandersetzungen ausgezehrten Land
des 21. Jahrhunderts. "Land of the Little People" zeigt
unaufdringlich inszeniert, aber eindringlich in seiner Wirkung die
psychologischen Folgen dieses Zustandes. Sehr spannend, beeindruckend
und bei mir lange nachwirkend.
Fashionista
Noch
so ein Genre-Hybrid. Das als Psychothriller getarnte Charakterdrama
einer mit sich selbst unzufriedenen Frau, der es an Liebe,
Anerkennung und Selbstachtung fehlt und die das durch einen
Kleidungsfetisch kompensiert. Clever erzählt (mit zahlreichen
Vorblenden – statt Rückblenden, die dem Zuschauer an passender
Stelle stets ein paar Informationsbröckchen zuwerfen, um ihn über
den weiteren Verlauf der Story spekulieren zu lassen) und
schauspielerisch in der weiblichen Hauptrolle herausragend. Ein
unerwartetes Highlight.
My Friend Dahmer
Ich
mag eigentlich keine Filme über reale Serienkiller. Denn oft werden
hier Deppen bzw. Verbrecher glorifiziert und mystifiziert. Meine
Vorbehalte gegen "My Friend Dahmer" waren jedoch unbegründet,
denn der Film zeichnet lediglich das Abschlussjahr Jeffrey Dahmers an
seiner Highschool nach und ist damit eher eine Highschool-Geschichte
mit den üblichen Typen, und zwar eher im Stil von "American
Graffiti" als von "American Pie". Insofern geht es viel um
Rollengefüge und das Streben nach Akzeptanz und Anerkennung in einem
Mikrokosmos, der nur wenig Abweichungen zulässt. Und da wir ja auf dem
Fantasy Filmfest und nicht beim „Kleinen Fernsehspiel“ sind wird
das alles sehr unterhaltsam, mitunter spannend und vor allem mit viel
Liebe zum 70er-Jahre-Detail inszeniert.
Hounds of Love
Am
letzten Tag am Nachmittag versteckte sich dieser Schlag in die
Magengrube. Menschliche Abgründe, wie sie auf dem FFF alle Jahre
wieder serviert werden. Am ehesten musste ich an den unvergesslichen "An American Crime" aus dem Jahr 2007 denken, der selbst hartgesottene Dauerkartenbesitzer zum Weinen brachte. Wobei dieser Film
in Australien spielt und zeigt, dass die Abgründe universell sind.
Killing Ground
Für mich der
beste Thriller des Festivals. Ein Pärchen will sich ein schönes
Wochenende machen und zeltet in der freien Natur. Kann ja nur
schiefgehen. Kennt man, wird hier aber extrem spannend einmal mehr
durchgespielt.
Marlina the Murderer in four Acts
Das
hingegen kannte ich noch nicht: ein feminsitischer, philippinischer
Rachefilm in Stile eines Italowesterns. Langsam erzählt, weshalb man
die exquisiten Bildern so richtig in sich aufsaugen kann, mit
lakonischem Humor und toller Musik. Konsequent bis zum Ende, überzeugender als
jede Me-too-Kampagne und damit im Jahr 2017 brandaktuell. Läuft seit gestern übrigens im Kino.
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