Montag, 15. Januar 2018

Lieblinge 2017 - Track by Track

Wie autobiographisch sind eigentlich diese Jahrescharts? Nun, einerseits natürlich sehr, denn jedes der Lieder, das ich auf CD gebannt habe (Pst, Kids, CDs, das sind die silbernen Scheiben, die eure Eltern in so komische, große Geräte legen, um Musik zu hören), hat im Jahr 2017 eine Rolle für mich gespielt, aber andererseits eben oft nicht so vordergründig, wie der Song vielleicht nahelegt. “Angst Angst Overkill” bedeutet nicht, dass ich demnächst mit einer Apokalypse rechne, oder Benjamin Biolays “Roma”, dass ich plötzlich geschmacklich einen an der Waffel habe. Es gibt für alles Gründe, und im Folgenden werden sie erklärt.

01 Maurice & die Familie Summen feat. Kryptik Joe: Zeit zurück
Und gleich mal eine Nummer direkt aus meinem Leben: das ist die Welt des Mittvierzigers, der zurück in die gute alte Zeit seiner Jugend will, die neutral betrachtet aber vielleicht doch gar nicht so gut war; der leicht melancholische Blick auf die eigene Vergänglichkeit, aber nicht als betroffener Indie-Folksong, sondern als superfunkige Hüftschwing- und Arschwackelnummer von Die-Türen-Sänger Maurice Summen zusammen mit größerer Band und dem einem Herren, dem man von Deichkind kennt. Ein großer Spaß.

02 Future Islands: Ran
Der große Hype scheint vorbei zu sein, denn Future Islands erhielten 2017 vielerorts nur noch lauwarme Reviews für ihr neues Album. Hauptvorwurf: klingt wie das letzte. Ah ja. Stört mich nicht. Gerade in „Ran“ kommt die Könnerschaft dieser Band einmal mehr auf das Schönste zum Vorschein: der sehnsuchtsvolle, flächige Elektrosound und darüber der stets über den Punkt melodramatische und exaltierte Gesang Sam Herrings. Trifft bei mir auch in der Wiederholung wieder mitten ins Herz.

03 J. Bernardt: Wicked Streets
Zweites Jahr der Balthazar-Pause, erster Solo-Output von Sänger Nummer zwei. Nicht nur live war J. Bernardt mit dieser Nummer auf dem Maifeld-Derby ein absoluter Höhepunkt, auch das Video und der reine Song haben mich das ganze Jahr über begleitet. Auch hier wieder eine Nummer zum Hüfteschwingen, betont lässig gesungen und mit schwebenden Synthie-Violinen, die wiederholt von einem Bläserbums unterbrochen werden, der für mich den eigentlichen Suchtfaktor des Stückes darstellt. So großartig, dass es der an sich auch sehr gute Song „Mad World“ des anderen Balthazar-Sängers nicht auf diese Zusammenstallung schaffte (Das wäre mit Spotify nicht passiert, und genau deshalb bleibe ich bei der CD, Kids!).

04 Andreas Dorau: Ossi mit Schwan
Man muss ihn einfach ehren und preisen, wo man kann, den Herrn Dorau. Einmal mehr bleibt der Mann sich treu und singt kein Liebeslied, sondern vertont eine Meldung aus dem „Aus aller Welt“-Teil eurer örtlichen Tageszeitung. Gewalt gegen Ossis und Schwäne, musikalisch lieblich und poppig verpackt. Musik mit dem Humor, der der schwerstseriösen aktuellen deutschsprachigen Popmusik ansonsten leider größtenteils fehlt. Ich musste beim Hören gerade schon wieder lachen. Und für die Verwendung des vom Aussterben bedrohten Wortes „Grobian“ danke ich Andreas Dorau auch.

05 Kreidler: Boots
Okay, ich gebe zu, ich habe so meine Schwierigkeiten damit, ein Instrumentalalbum mit elektronischer Musik als Ausdruck von Protest zu begreifen. Kreidler sehen ihr 2017-Album „European Song“ allerdings so, und wer bin ich, den Künstlern zu widersprechen? Dann eben Protest. Ich habe mich allerdings vor allem darüber gefreut, dass es ein neues Album gab, dass es zudem das beste Cover aller Kreidler-Alben hat und dass mit „Boots“ eine kickende, hübsch aggressive Nummer dabei ist, die sich in die Reihe meiner anderen Lieblingstracks der Band von „Kremlin Rules“ bis „Alphabet“ nahtlos einreiht.



06 Romano: Raupe
Der blond bezopfte Rapper aus Köpenick schaffte es in diesem Jahr nicht nur, mich zum zweiten Mal live komplett für sich einzunehmen, mit „Raupe“ hat er auch einen Song auf seinem neuen Album, der sich von den anderen eher auf Party abzielenden Nummern abhebt. Textlich zwischen Jacques Palminger und dem Fantasy Filmfest angesiedelt, wabert der Song auch musikalisch recht unangenehm daher und wird gerade dadurch interessant.



07 Tristesse Contemporaine: Dem Roc
Nachdem der Plattenhändler meines Vertrauens das neue Album meiner Dauerlieblinge Tristesse Contemporaine monatelang nicht liefern konnte, habe ich es erst mit erheblicher Verzögerung im Laufe des Jahres wahrgenommen. Insofern würdige ich es auch auf der Lieblinge-CD, auch wenn ein Song bereits die 2016er-Version zierte. „Dem Roc“ unterschreitet lässig die Drei-Minuten-Marke. Der Song hat es eilig. Drängend, leicht hektisch und monoton zugleich, vor allem tanzbar und den Adrenalinpegel erhöhend – wie geht so was? Keine Ahnung, aber dieses Trio schafft es einmal mehr seine unterschiedlichen musikalischen Hintergründe gekonnt im Dienst eines außergewöhnlichen Songs zu stellen. Und ich verweise auch noch mal den wunderbaren Text: „Dem roc, and we rock, they never gonna rock what we got, what we got is sweeter, yeah we turn the heat up“. Eben.

08 Benjamin Biolay: Roma
Midlife Crises? Zu lange in der Sonne gesessen? Egal. Benjamin Biolay folge ich in jeden Irrsinn. In den letzten beiden Jahren hat der Retter des französischen Chansons gleich zwei Alben (wie üblich mit viel zu vielen Lieder) veröffentlicht, auf denen er spanischer bzw. südamerikanischer Musik huldigt. Wobei er vor nichts zurückschreckt. Schwülstiger Kitsch, Zigeunerromantik, Rondo-Veneziano-Geigen und spanischsprachige Gastrapper. Im Video setzt er dem Ganzen noch eins drauf. Herrlich. Einer meiner beiden Lieblingsongs des diesjährigen Frankreichurlaubs, wo musikalisch alles erlaubt ist, solange es sommerliche Gefühle beschwört. P.S.: ganz Mutigen empfehle ich nach dem Genuss dieses Liedes mal „La noche ya no existe“. Da legt Biolay noch 'ne Schippe drauf.

09 White Wine: Killer Brilliance
Womit wir beim musikalischen Höhepunkt des Jahres wären. Die veritabel durchgeknallten (siehe Video) White Wine, die ich live seit Oktober 2016 mehrfach versäumt habe, deren Songoutput ich mir aber nach und nach erschlossen habe. Gitarre, Fagott und Glockenspiel in einem Indierock-Song, der intelligent komponiert, aber nicht zu verkopft daherkommt. Dazu ein Gesang mit hohem Wiedererkennungswert und eine Dramatik, die auch bei mehrfachem Hören keine Langeweile aufkommen lässt. Müsste ich wählen, das wäre mein Song des Jahres und White Wine meine Lieblingsband.

10 Peter von Poehl: Inertia
Ein Mann, den ich gar nicht auf dem Zettel hatte. Woher auch? Peter von Poehl ist ein Schwede, der vor ein paar Jahren wohl mal einen Minihit hatte und der jetzt in Frankreich lebt, wo er seine Musik aufnimmt und auch auftritt. Welch ein Glück, dass einer dieser Auftritte im Mai in Toulouse stattfand und ich im Rahmen eines Austausches mit zahlreichen entfesselten Siebtklässlern dort war. Nicht nur das Konzert war herausragend, auch auf dem aktuellen Album von Poehls finden sich einige exquisite Stücke, so wie dieser schöne und elegante Song, dem man allenfalls vorwerfen kann, dass er fast ein wenig zu perfekt klingt. Kitsch ist keine Kategorie hier.

11 Julien Doré: Coco Caline
Franzose Nummer zwei auf diesen Jahrescharts ist auch ein alter Bekannter. Julien Doré gelang mit Coco Caline und dem dazugehörigen Album in seinem Heimatland wohl endlich der verdiente Durchbruch. Konzerte in großen Hallen und ein omnipräsenter Song, den man auf dem Weg zum Strand von La Grande Motte aus so manchem Handy quäken hören konnte. Dass Doré seine Kernkompetenz Selbstironie für den Erfolg nicht aufgeben musste, freut mich doppelt. Das minimalistische Video zu Coco Caline erfreute die ganze Familie König im Urlaub mehrfach.

P.S.: ein wahres Kunstwerk an Kurzfilm ist „Sublime et Silence“, das der geneigte Betrachter sich unbedingt auch anschauen sollte:

12 Friends of Gas: Graue Luft
Ach Mist, jetzt habe ich mich mit der Lieblingsband ja schon auf White Wine festgelegt. Dabei sind doch eigentlich Friends of Gas meine Band des Jahres. Diese absolut furchtlosen, schönen, jungen Menschen versprühen so viel jugendliche Aggression, musikalisch wie textlich, dass ich mich frage, warum ich eigentlich so auf sie abfahre. Die Antwort findet sich vermutlich im ersten Song dieser dieser Zusammenstellung. Stichwort: "alte Zeit zurück, tick tack". Mich kickten die Friends of Gas im Jahr 2017 nicht nur live, sondern auch daheim, auf dem Weg zur Arbeit oder beim Verarbeiten der letzten Gesamtkonferenz. Egal ob Album oder dieser Track, den man meines Wissens bisher nur im Internet findet, einfach großartige Musik voller Energie und mit wunderbar verstörenden Texten („Und als ich rausging war ich voller Käfer, als ich rausging war es anders, ...anders“).

13 Ruby: Paraffin (Red Snapper Mix)
Kurz mal durchatmen. Inspiriert vom allerallerbesten Konzert des Jahres im Oktober in London habe ich mein CD-Archiv nach den obskureren Red-Snapper-Tracks durchforstet und bin dabei auf diese wunderbare Nummer aus dem Jahre 1995 gestoßen. Auf einer Remix-Platte der längst vergessenen Triphop-Combo Ruby findet sich dieses Meisterwerk, das dem Original Referenz erweist, gleichzeitig aber, vor allem mit dem Double Bass, deutliche Red-Snapper-Elemente aufweist. Ein perfekter Remix, ein sehr hörbarer Song, der zudem zeigt, welches Potential dieses kurzlebige Genre eigentlich hatte. Mein schönstes Wiederhör-Erlebnis des Jahres.

14 Messer: Der Staub zwischen den Planeten
Messer hatte ich über Facebook in diesem Jahr ja auch schon mal lautstark zur besten Band des Jahres gekürt. Zum Glück nur zur besten deutschsprachigen, denn sonst würde ich ja langsam unglaubwürdig werden mit diesen ständigen Superlativen. Doch Anfang des Jahres war ich schon ziemlich im Messer-Fieber, was vor allem auch damit zu tun hatte, dass nach dem exzellente Konzert Ende 2016 in Wiesbaden ein nicht minder exzellentes im April 2017 in der Darmstädter Oettinger Villa folgte. Ein Dreivierteljahr später ist es vor allem dieser Song, den ich nach wie vor ungebrochen liebe. 

15 Nicolas Sturm: Angst Angst Overkill
Nicolas Sturm hat mich in diesem Jahr mit einigen Songs beeindruckt. Das klare politische Statement in „Im Land der Frühaufsteher“ verdient Respekt, „Lichtjahre“ ist ein wunderbar melancholisches Lied über die Sehnsucht danach, etwas zu erleben – und beide Songs hätten hier ebenso vertreten sein können. Meine Entscheidung fiel aber auf das Titelstück, da sich dieses anfühlt, als wäre es aus meiner Jugend: „Das Neonlicht malt Risse in dein Gesicht; was du hast gefällt dir nicht, und was du willst, bekommst du nicht“. Ja, so hat sich das angefühlt in den späten 80ern in der badischen Provinzmetropole. Woher weiß Nicolas Sturm das? Und wie gelingt es ihm, diesen Geist nicht nur textlich, sondern auch musikalisch in seinem Song zu transportieren? Wer deutschsprachige Indiemusik schätzt und es musikalisch durchdacht mag, sollte sich das Album mit diesem Song mal anhören. Wächst mit jedem Hören, so dass Nicolas Sturm für mich eine er größten musikalischen Entdeckungen des Jahres ist.

16 Intergalactic Lovers: River
Ich würde es ihnen ja gönnen, wenn sie mit Album Nummer drei endlich den großen Durchbruch schaffen würden, die Intergalactic Lovers. Denn ich mag sowohl die Band als auch ihre Musik. Denn das ist zwar Popmusik, aber die Art von Pop, der nicht am Reißbrett entsteht, sondern Substanz hat, gereift ist und auch bei mehrfachem Hören nicht langweilig wird, sondern im Gegenteil wächst. Weil man noch eine Nuance entdeckt, weil der Gesang auch bei hundertsten Mal noch schön ist, weil die Mischung aus Leichtigkeit und Dramatik genau passt. Und wenn man ins ZDF-Morgenmagazin gehen muss, um einer größeren Anzahl von Leuten diese Qualitäten klar zu machen (weil die Musik für's Formatradio eben immer noch zu sperrig ist), dann bitte sehr. Wenn es dazu dient, dass in Wiesbaden 150 Leute zum Konzert kommen statt wie vor ein paar Jahren nur 10, kann ich das nicht schlecht finden.

17 Die Sonne: Alles muss wachsen
So, genug entspannt. Kehren wir zurück zu den eher unangenehmen Texten. Gegen Ende des Jahres kam ich in den Genuss des zweiten Albums von Die Sonne. Auch hier hätte ich wieder diverse Titel auswählen können. Denn diese Platte ist fantastisch. Für den geneigten Zuhörer zumindest. Oliver Mincks Texte sind abgründiger denn je, düstere Wahrheiten zu allen möglichen Themen. Die düsterste hier. Der Song für alle, die Christian Lindners FDP gewählt haben und den Klimawandel für eine Erfindung der Grünen halten. Für alle, die den Schwachsinn glauben, dass man alles erreichen kann, wenn man nur will. Für alle, die immer noch einem rücksichtslosen Individualismus anhängen und glauben, dass sie so glücklich werden können. Für euch gilt: "macht euch jetzt endlich mal Sorgen".
Für den Text hier eine Liverversion von 2014. Klingt drei Jahre später leicht umarrangiert musikalisch wesentlich besser.

18 Family 5: Stolpere nicht
Und wenn ich mich jetzt schon so weit geöffnet habe, kann ich auch noch den guten, alten Peter Hein nachschieben. Manifest und Mantra in einem. Für die Guten da draußen: wenn ihr zweifelt, hört dieses Lied. Ihr macht alles richtig. Bussi - und bis nächstes Jahr



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