Dienstag, 28. Dezember 2010

Lieblinge - Pt.3 - Die Filme

Die besten Filme

  • Alice in Wonderland (Tim Burton dreidimensional. Hollywood at its best.)

  • Das Kabinett des Dr. Parnassus (Terry Gilliams bester Film seit Brazil. Word.)

  • Ivory Tower (Gonzales' Schachspieler-Film. Skurril und sympathisch semiprofessionell)

  • Banksy – Exit Through Giftshop (im ersten Teil interessante und amüsante Doku über Streetart, im zweiten Teil geniale Auseinandersetzung mit der Kommerzialisierung von Kunst. Unaufdringlich und intelligent)

  • Anvil – The Story of Anvil (Besser kann man eine Dokumentation nicht machen. Ich habe wirklich mitgelitten mit den grundsympathischen Metallern und musste an BB-Jupp denken: „Und ich tu und tu und tu. Und bin immer noch unten.“)

  • Jud Süß – Film als Verbrechen (Wenn schon Geschichte im Film, dann doch so. Sex im Schein der Bombeneinschläge in der Reichshauptstadt. Der Versuch eines Befreiungsschlag gegen Eichinger und Konsorten - grandios gescheitert.)

  • Avatar (Optik! Optik!! Optik!!!...und die Geschichte vergessen wir mal)


Gute Filme

  • Männer, die auf Ziegen starren (Clooney, Spacey und der Dude in Spiellaune)

  • Surrogates (leider im Avatar-Fieber untergegangen; überzeugende Auseinandersetzung mit Schönheits- und Jugendwahn im Rahmen eines Genrefilms)

  • The Social Network (Finchers atemloses Biopic – erhellend, spannend und elegant inszeniert)

  • Small World (Gerard Dépardieu liefert als Alzheimer-Patient die berührendste Vorstellung des Jahres und lässt die zunehmende Langatmigkeit der eigentlichen Geschichte vergessen)

  • Das Vaterspiel (eigenständige Umsetzung des Haslinger-Romans, die strafft und interpretiert und doch den Kern trifft)

  • Inception (Da sind wir uns ja alle mal einig.)

  • Plastic Planet (ein Österreicher klärt über die Gefahren von Plastik auf. Engagiert und unterhaltsam umgesetzt)

  • Everybody's Fine (Robert DeNiro in ungewohnter Rolle und mit ungewohnt unaufgeregtem Spiel)

  • Ponyo (nicht Totoro, aber jedem Disney-Pixar-Produkt an Fantasie um Längen überlegen)

  • Ein Mann von Welt (Aki Kaurismäki trifft die Coen-Brüder und Stellan Skarsgard brilliert)

  • Mlle Chambon (berührendes französisches Beziehungskino)

  • Der letzte schöne Herbsttag (berührendes deutsches Beziehungskino)

  • Up in the Air (Jason Reitman schaltet einen Gang runter – berührendes amerikanisches Beziehungskino)

  • Splice (Vincenzo Natali in Form, wenn auch nicht ins Bestform)


Fantasy-Filmfest-Höhepunkte

  • Heartless (lief schon auf den Nights – perfekter Hybrid aus Horror und Charakterdrama; einer der Film, für die ich das Filmfest liebe!)

  • Vampires (schräge Fakedoku mit absolutem Nullbudget. Und Not macht ja bekanntlich erfinderisch.)

  • Four Lions (Die Selbstmordattentäter-Komödie – Der witzigste Film des Jahres.)

  • Monsters (Nicht District 9 – zum Glück. Stattdessen Road Movie, SciFi und ein Film über den Umgang mit Fremdem)

  • Backyard (schonungsloses mexikanisches Sozialdrama im Krimigewand. Ein Schlag in die Magengrube)

  • Frozen (mein erster Horrorfilm des Jahres)

  • rec2 (mein zweiter Horrorfilm des Jahres)

  • The Disappearance of Alice Creed (straight, spannend, britisch. Nice one, geezer)

  • The Wild Hunt (die Überraschung des Festivals. Horror, Komödie, Sozialdrama)

  • Rapt (der beste Franzose des Festivals. Thriller, der alle Facetten eines Entführungsfalles beleuchtet)

  • Corridor (Psychothriller auf begrenztem Raum und mit sehr wenig Budget, geadelt vom unverwüstlichen Peter Stormare)

  • The Scouting Book for Boys (spannende Initiationsgeschichte, sehr britisch)


DVD-Entdeckungen:

  • Mein Nachbar Totoro (der allerbesteste Kinderfilm aller Zeiten. Ever.)

  • Unthinkable (Samuel L. Jackson als Folterer für den guten Zweck. Kein Tortureporn, sondern die spannendste Auseinandersetzung mit Terrorismus seit Civic Duty)

  • Triangle (schnörkelloser Mystery-Horror von Christopher Smith. Mein dritter Horrorfilm des Jahres)

  • Import / Export & Hungstage (Endlich habe ich mich rangetraut. Die beiden Spielfilme des Misanthropen Ulrich Seidl. Menschliche Abgründe, unterhaltsam aufbereitet.)

  • We Own the Night (Im Kino verpasst, jetzt nachgeholt. Joaquin Phoenix brilliert in James Gray's Gangster-Opus. Episch, existentialistisch, wuchtig.)

  • Anthony Zimmer / Fluchtpunkt Nizza (Die Vorlage zu Donnersmarcks The Tourist. Dank Sophie Marceau, Cote D'Azur und mehr Tempo der bessere Film.)

  • Leur morale et la notre (Tanguy-Papa André Dussolier als Trainingsanzug-tragender Schnäppchenjäger und Zwangsneurotiker. Mal hysterisch witzig, mal beklemmend, könnte Ulrich Seidl gefallen)


Klassiker des Jahres:

  • John Carpenters Das Ding aus einer anderen Welt (Ohnehin unterschätzt, aber auf Bluray ein absoultes Meisterwerk des modernen Horrorfilms)

  • Die neunschwänzige Katze (Hurra, Argento schafft es eine Geschichte zu erzählen! Nach der dritten Mutter und dem Phantom der Oper eine Erinnerung daran, warum dieser Mann mal als Meister seines Faches galt.)

  • Der unsichtbare Dritte (Immer wieder. Und jetzt auch auf Bluray.)

  • Leichen pflastern seinen Weg (Ja, schon wieder. Purer Nihilismus und Kinskis blaue Augen)


Serien:

  • Benidorm (Nicht zu toppen)

  • That Mitchell and Webb Look (Liebe deutsche Comedyschreiber, wenn eure Ideen nur ein Zehntel so intelligent und lustig wären wie diese Sketchshow, müsste ich nicht immer kopfschüttelnd zur Fernbedienung greifen, wenn ich mal in eines eurer Ablach-Formate gerate)

  • Ideal (Johnny Vegas rules.)

  • 30 Rock (Alec Baldwin rules. Und der Rest vom Ensemble eigentlich auch.)

  • Rome (Von führenden Geschichtslehrern für gut befunden.)

  • Matrioshki (belgische Serie über Mädchenhändler mir einigen sehr gelungenen Momenten und einigen unterhaltsamen Klischees)

Sonntag, 26. Dezember 2010

Lieblinge - Pt.2 - Die Bücher

Alex Capus: Glaubst du, dass es Liebe war?
Ach ja, Capus. Der begnadete Erzähler. Dieses Mal wieder in der Schweizer Bergwelt, aber auch in der großen weiten Welt. Hallodri Harry Widmer flieht vor dem Bankrott nach Mexiko. Bekannte Elemente aus Capus` anderen Werken begegnen einem auf sympathische Art wieder: die amüsanten Provinzanekdoten; der Europäer in der großen weiten Welt. Dass sich das Buch in einem Rutsch liest und Capus dennoch große Gedanken gelassen ausspricht, ist die Kunst, die er beherrscht. Gott sei Dank keine „ernsthafte, hinreißende Liebesgeschichte“, wie das Schubladenfeuilleton auf dem Einband androht, sondern echte Geschichten von echten Menschen.

Max Goldt: QQ
Der beste Goldt seit Jahren! Sprachlich und inhaltlich voll auf der Höhe, weniger prätentiös als in den späten 90ern und damit wieder ein reineres Lesevergnügen.

Nikos Panajotopoulos: Heiligmacher
Intelligenter Roman zum Thema Erlösungsbedürftigkeit der Menschen am Beispiel eines unfreiwilligen Heiligen im ländlichen Griechenland des frühen 20. Jahrhunderts. Hier herrscht hier kein besonders positives Menschenbild vor, und die Schilderung von Dorfbewohnern und dörflicher Enge sind so, wie man sich das vorstellt, aber Ironie und Humor in der Darstellung verströmen eine erzählerische Leichtigkeit, die das Buch zu einer unterhaltsamen Lektüre statt zum defätistischen Traktat machen.
Gelungen ist auch die verschachtelte Erzählperspektive, die am Ende sehr explizit thematisiert wird und damit den Leser mit der Glaubwürdigkeit des Geschehens konfrontiert, so dass er zu einer bewussteren Auseinandersetzung mit dem Gelesenen gezwungen wird.

Nikos Panajotopoulos: Die Erfindung des Zweifels
Der Erstling desselben Autors. Zwar mag ich keine Bücher über Schriftsteller, aber die Prämisse des Romans – ein Wissenschaftler findet heraus, dass künslerische Begabung genetisch nachweisbar ist und verursacht damit eine Zwei-Klassengesellschaft von anerkannten und „annulierten“ Künstlern – ist schon sehr reizvoll und trägt das Buch problemlos über seine 180 Seiten. Dazu kommt die originelle Strukturierung – eine Lebensbeichte eines todkranken Schriftstellers, herausgegeben von seinem Arzt, dessen Vorwort die Authentizität des Geschriebenen ebenso in Frage stellt wie das Nachwort des Autors, der sich somit selbst zur fiktiven Figur macht. Man merkt schon, Panajotopoulos trifft hier den postmodernen Zeitgeist des Jahres 1999, in dem der Roman verfasst wurde, was mir aber gefällt, denn das ist ja die Zeit, in der ich hängengeblieben bin ;-).
Auch die Hauptfigur, der Schriftsteller Wright, der sich weigert den Test zu machen, um herauszufinden, ob er das Schriftsteller-Gen hat, und sich darüber ruiniert, ist eine interessante Figur, die zudem angenehm zwiespältig daher kommt, so dass man als Leser an angenehmes Maß von Nähe und Distanz zu ihm aufbaut. Die Aussagen über Literaturkritik rennen bei mir offene Türen ein, die literarischen Anspielungen und Versatzstücke passen ins postmoderne Konzept, ohne dabei bemüht oder wichtigtuerisch zu wirken; einzig die Figur der „heiligen Hure“ Patty ist schon etwas arg abgedroschen und die Sci-Fi-Welt der Jahre 2030-65 kommt schon etwas arg zeitgenössich daher, wenn Menschen z.B. ständig Briefe schreiben.
Insgesamt aber ein sehr lohnender und herausfordernder Roman.

David Albahari: Götz und Meyer
Ambitionierter Versuch, eine Facette des Holocaust in literarischer Form zu bearbeiten. Ein Belgrader Lehrer, dessen Familie größtenteils bei der Ermordung der Belgrader Juden ums Leben gekommen ist, sinniert über die beiden Fahrer des „Todes-LKWs“, in dem 5000 serbische Juden vergast wurden. Die Annäherung an die beiden Männer, die er nur aus Berichten kennt, erfolgt aus unterschiedlichesten Perspektiven, wobei zunehmend auch die Opfer ins Blickfeld rücken. Dabei bleiben Täterklischees vom SS-Biedermann nicht aus, werden aber durch den „unzuverlässigen Erzähler“ gebrochen, dessen Psyche unter der (indirekten) persönlichen Betroffenheit gelitten hat und dessen Überlegungen bisweilen ins Wahnhafte abgleiten.
Fragwürdig ist der Versuch des Lehrers in der in der Gegenwart angesiedelten Parallelhandlung seine Schüler mittels „Erlebnispädagogik“ zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu zwingen. Dass die persönliche Obsession, die er dabei zeigt (die Schüler bekommen auf einer Fahrt zu den Tatorten die Namen seiner toten Verwandten zugeteilt), nicht zu weiteren Konsequenzen führt, ist ein Manko des Buches und hätte dem Roman eine zusätzliche Bedeutungsebene (Frage nach dem „richtigen“ Erinnern an den Holocaust) bzw. eine Außensicht auf den Ich-Erzähler (über die Reaktion der Schüler / Eltern /...) geben können.
Insgesamt dennoch ein ambitioniertes Unterfangen, das über weite Strecken auch sprachlich und literarisch überzeugend umgesetzt wird.

Christopher Priest: The Separation (ACHTUNG! SPOILER!)
Sci-Fi-Autor Priest unternimmt den Versuch einer Parallelgeschichtsschreibung im Sinne eines „Was wäre gewesen wenn...“. In diesem Fall geht es um die brisante Thema, was gewesen wäre, wenn Rudolf Hess’ Friedensangebot an England im Jahr 1941 angenommen worden wäre und Großbritannien einen Separatfrieden mit Nazi-Deutschland geschlossen hätte. Ein gewagtes Thema, an dem Priest nicht scheitert, sich aber dennoch überhebt.
Auf der Habenseite hat das Buch eine intelligente Struktur, die uns in die Parallelwelt des Jahres 1999 einführt, nur um dann mit den Erinnerungen eines RAF-Bomberpiloten den uns bekannten Hergang der Geschichte zu schildern. Hieran schließt sich ein weniger geschlossener Teil an, der in Form einer Materialsammlung die Parallelgeschichte entwirft, wobei Priest relativ gekonnt Dokumente, gefake-te Dokumente und Fiktion mischt. Welche Variante nun die (Roman-)Realität ist, verliert der Leser dabei mit der Zeit aus den Augen, und es ist ein Verdienst des Autors, dass diese Frage am Ende irrelevant ist.
Um den abstrakten Stoff zu personalisieren und als Roman funktionieren zu lassen, führt Priest das Zwillingspärchen Joe und Jack (beide haben die Initialen JL) ein, deren Lebenswege sich nach dem gemeinsamen Gewinn einer Bronzemedaille im Rudern bei den Olympischen Spielen 1936 trennen. Während Jack Bomberpilot wird, wird der an sich NS-kritischere und politisch bewusstere Joe zum radikalen Pazifisten, der sich vehement für den Separatfrieden mit dem aggressiven Deutschland einsetzt. Der Gewissenskonflikt, der sich für Joe daraus ergibt, ist der reizvollste Teil in Priests Buch und auch der am durchdachtesten ausgeführte.
Weniger überzeugt haben mich die Elemente, die das Buch wohl verkaufen sollten, wie die Dreiecksgeschichte mit der Halbjüdin Birgit, der Joe zur Flucht aus Berlin verhilft und die Jack natürlich auch lieben muss. Auch die Darstellung der Bomberflüge Jacks ist nicht gerade aufregend, wenn man sich schon etwas mit dem 2. Weltkrieg beschäftigt hat, und wirkt wie das Amalgat aus wohlbekannten Augenzeugenberichten.
Am problematischsten ist aber, dass Priest manche historische Zusammenhänge zu oberflächlich behandelt oder einfach nicht sieht. Das Thema Holocaust in der Alternativhistorie mit der Verwirklichung der „Madagaskar“-Lösung vom Tisch zu wischen ist schon sehr einfach; ebenso wie die Idee, die Deutschen hätten nach Hess’ erfolgreicher Vermittlung Hitler als Reichskanzler abgesetzt (wie genau wird dabei nicht gesagt). Sicherlich hat Priest für dieses Buch intensiv recherchiert und nicht Bernd-Eichinger-mäßig zwei Bücher gelesen und dann „alles verstanden“. Im Gegenteil: Priest will keine einfachen Lösungen anbieten, sondern zum Nachdenken anregen, und auch wenn mich seine Separatfrieden-Variante (die er in weitaus positiverem Licht darstellt als die Erinnerungen des RAF-Bomberpiloten in der tatsächlichen Geschichte) nicht überzeugt, wirft das Buch immerhin interessante Fragen auf und lädt zu einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit Geschichte, Politik und Handlungsspielräumen in Krisenzeiten ein. Dafür lassen sich einige Längen und Ungereimtheiten verschmerzen.
Und das Detail, dass Joseph Goebbels in Priests Alternativgeschichte, nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hat, Dokumentarfilmer wird, ist einer der geistreichsten Historikerwitze aller Zeiten.

Maarten `t Hart: Die Netzflickerin
Die Bildungsbürgerlichkeit des Autors nervt mich nach wie vor. Anspielungen auf klassische Musik, augenzwinkernde Aussagen über große Philosophie – bräuchte es alles nicht für mich, da all die Anspielungen nichts bis wenig zu Geschichte, Handlung oder Aussage des Romans beitragen und man vielmehr oft den Eindruck gewinnt, hier wolle der Autor bluffen, um von der Konventionalität der eigenen Geschichte abzulenken.
Dabei ist Simon Minderhouts Lebensgeschichte, die wir mit einer Auslassung von ca. 50 Jahren nacherleben, an sich wahrlich fesselnd genug. Ein Außenseiter, der als intellektueller Einzelgänger nicht aus der kleinstädtischen Enge ausbricht, sondern als Apotheker auf dem Land arbeitet und dort als schräger Vogel gemieden wird; der nicht nachplappert, was alle sagen und denken und damit aneckt; und auf den dieses Außenseitertum zurückschlägt, als er nach 50 Jahren mehr oder weniger zufällig in die Geschichte eines Verrats verwickelt wird.
Überzeugend ist dabei, wie `t Hart verschiedene Subgenres mischt (Initiationsgeschichte, Liebesgeschichte, Krimi), wobei immer seine Hauptfigur im Mittelpunkt steht. Interessant Simon während der Besatzung Hollands im Dritten Reich als quasi apolitischen Menschen zu erleben, dem persönliches Glück in Form von Liebe zur titelgebenden Netzflickerin bzw. in Form des ästhetischen Genusses klassischer Musik wichtiger ist als die politischen Probleme seiner Umgebung. Simon Minderhout ist auf jeden Fall ein plausibler, faszinierender und dabei keinesfalls schimmernder und ungebrochener Held, dessen Schicksal den Leser immer so sehr fesselt, dass man die etwas langatmigen und selbstverliebten Exkurse des Autors hinnimmt und das Buch mit Genuss bis zum Ende liest.

Samstag, 25. Dezember 2010

Lieblinge Zehn – die Linernotes

01 Ian Brown – Stellify
Über 40 sein und in einem Adidas-Trainingsanzug trotzdem nicht aussehen wie ein Hartz-4-Empfänger, das schafft nur Ian Brown. Dass sein neues Album nach eigener Auskunft nur Hits enthält und er damit den King of Pop ablöst, entspricht zwar nicht den Tatsachen – dafür hätte er schon mal das Covern des Hippie-Liedchens “In the Year 2525” lassen sollen – aber zumindest “Just Like You” und vor allem “Stellify” haben Klassikerqualitäten. Ein Opener nach Maß.

02 Nom de Guerre – Run Run Run
Hannover im August. Junge Menschen warten geduldig vor einer viel zu kleinen Halle, um Bratze zu sehen. Parallel spielen in der noch kleineren Halle vor ca. 25 Zuhörern Nom de Guerre. Es ist der zweite Festivaltag, die Menschen sind müde und müffeln, aber Nom de Guerre haben sich in Schale geworfen und stellen ihr... schluck... Konzeptalbum vor. Es geht wohl irgendwie um Mord und Totschlag, aber es klingt einfach nur perfekt poppig.

03 Miike Snow – The Rabbit
Kein neues Album, kein Konzert in meiner Nähe – aber immerhin mit dem Prä-Album-Stück “The Rabbit” ein – für mich – neuer Song, der die Flamme am Köcheln hält.

04 Delphic – Halcyon
Das Album voller Hits. Die besondere Qualität der Band zeigt sich in „Halcyon“, wenn nach dreieinhalb Minuten Elektropop die Indiegitarre zum Solo anhebt. Hier wächst zusammen, was zusammen gehört. Energie, Enthusiasmus – und live extrem viel Kunstnebel.

05 Urlaub in Polen – Theodore Flames
Hannover im August. Junge Menschen schwoofen zu Superpunk in der kleinen Halle. In der noch kleineren Halle beenden Urlaub in Polen den Freitagabend mit einem etwa 30minütigen Gig. Nach dem ersten Lied pfeift es in den Ohren, und der Sänger fordert mehr Sound auf seinem Monitor und überhaupt „könnte das alles noch lauter sein“. Jawoll. Rock'n'Roll will never die. Auch wenn's Progressive Rock ist.

06 Bratze – Ohne das ist es nur noch laut
Ohne die wäre das Audiolith-Label intellektuellenfrei. Während Egotronics „Raven gegen Deutschland“ die Dosenbierseligkeit der Atzen heraufbeschwört, nur eben mit linker Gesinnung, lassen es Bratze mit intelligenten und witzigen Texten krachen. Das Video im Stil einer volkstümlichen Hitparade ist definitiv eines der amüsantesten des Jahres.

07 Herpes – Very Berlin
Dieses Shö-hört – in dieser Fa-harbe - Very Berlin, very Berlin! Schön hektisch, frisch und jugendlich.

08 Marc Lavoine – Rue des acacias
Der Gegenpol zu Herpes. Le roi de Schmaltz et Schnultz mit dick aufgetragener Schweineorgel. Love it or hate it.

09 M – Est-ce que c’est ca ?
Bernd Begemann hasst ihn, eine führende Botschafterin der französischen Popmusik kann ihm nichts abgewinnen. Mir gefallen seine Songs, und schweren Atem als Sound einzufangen mag man prätentiös finden, ich find's originell.

10 Caribou – Odessa
Der Song ein Meisterwerk, der Mann dahinter ein Genie. Vielleicht der Song des Jahres.

11 Chromeo – Night by Night
Mir bleibt jedes Mal die Spucke weg. Diese Sounds! Whatever happened to the Eighties? Chromeo haben sie komplett in sich aufgesogen und in neue Songs destilliert.

12 Die Sterne – Convenience Shop
Munich Pop statt Indierock. Richard von Schulenburg hat die Band verlassen, zahlreiche Fans sind mitgegangen und im Intro wurde “24/7” ordentlich gedisst. Allerdings hatten die auch Hurts auf einem ihrer Cover. Soviel zum guten Geschmack. Ich mag die neue Richtung. Disco für Enddreißiger, die nicht erwachsen werden wollen. Dazu passt auch die textliche Eindeutigkeit in “Stadt der Reichen” oder eben in “Convenience Shop”. Auch 2010 meine deutsche Lieblingsband.

13 Get Well Soon – Werner Herzog Gets Shot
Selbst wenn “Vexations” mich nicht ganz überzeugt und ich dieses Jahr eher das Vorgängeralbum für mich entdeckt habe, gehören Get Well Soon schon auf die Jahrescharts. “Werner Herzog...” blieb mir nach dem Konzert im Kopf hängen. Schön melancholisch.

14 Gaeton Roussel – Help Myself
Mit Mickey 3D mein Franzose des Jahres. Ein alter Hase, der weiß, was er tut und mit Help Myself einen echten Hit produziert hat.

15 Dirk Darmstädter & Bernd Begemann – Sputnik Rock
Letzter Platz beim Bundesvision Songcontest. Auch die Idee mit den 50er-Jahre-B-Seiten deutscher Rock'n'Roller bringt Bernd Begemann nicht den verdienten Erfolg. Trotzdem bleibt er mein Gott. Vielleicht nicht als Musiker, aber als Entertainer und Filmconaisseur. Und der „Sputnik Rock“ war live ein großer Spaß.

16 Gonzales – I Am Europe
Noch ein echter Entertainer. Als reiner Pianist war er für meinen Geschmack in den letzten Jahren zwar etwas zu sehr als musikalischer Leistungssportler unterwegs (Stichwort “Klavierduelle”), aber mit dem Film “Ivory Tower” und dessen Titelsong “I Am Europe” knüpft er für mich an die gute alte Chilly-Gonzo-Zeit an.

17 Tindersticks – Black Smoke
Das hat gedauert, bis ich mich an den Muppet-Show-artigen Chrous von “Black Smoke” gewöhnt hatte. Inzwischen singe ich mit und kann akzeptieren, dass wir es nicht mehr 1995 haben. Und dass diese Band noch da ist, ist genug Grund zur Freude.

18 The Late Call – Fribourg
Ich kann mich nur wiederholen: ab und an mal ein Blick auf die Tapete-Records-Website und man findet atemberaubend schöne Musik. Nach Nom de Guerre meine zweite Pop/Folk-Entdeckung des Jahres.

19 Mickey 3D – Personne n’est parfait
Ich kann einen französischen Witz: «Qu'es-ce que c'est un Alsacien? - C'est un Belge qui n'a pas trouvé la Suisse.». Erzählt von Mickey 3D in Straßburg. Auch sonst zeichnet sich der Mann durch trockenen Humor aus, und sein pathosfreies Auftreten auf der Bühne macht ihn eigentlich zum Chansonier des Jahres. In «Personne n'est parfait» geht's um's Sterben. Mais c'est pas grave. Pas si grave.

20 Erdmöbel – Erster, erster
Leben statt Tod. Erdmöbels Neujahrslied strotzt vor Enthusiasmus und positiver Energie, und dass die Band mit dem nicht gerade eingängigen Album « Krokus » endlich zumindest Kritikerlieblinge geworden sind, gönne ich ihnen von Herzen.

Freitag, 17. Dezember 2010

Lieblinge 2010 - Pt. 1

Die Jahrescharts sind soweit.

01 Ian Brown – Stellify
02 Nom de Guerre – Run Run Run
03 Miike Snow – The Rabbit
04 Delphic – Halcyon
05 Urlaub in Polen – Theodore Flames
06 Bratze – Ohne das ist es nur noch laut
07 Herpes – Very Berlin
08 Marc Lavoine – Rue des acacias
09 M – Est-ce que c’est ca ?
10 Caribou – Odessa
11 Chromeo – Night by Night
12 Die Sterne – Convenience Shop
13 Get Well Soon – Werner Herzog Gets Shot
14 Gaeton Roussel – Help Myself
15 Dirk Darmstädter & Bernd Begemann – Sputnik Rock
16 Gonzales – I Am Europe
17 Tindersticks – Black Smoke
18 The Late Call – Fribourg
19 Mickey 3D – Personne n’est parfait
20 Erdmöbel – Erster, erster