Sonntag, 26. Dezember 2010

Lieblinge - Pt.2 - Die Bücher

Alex Capus: Glaubst du, dass es Liebe war?
Ach ja, Capus. Der begnadete Erzähler. Dieses Mal wieder in der Schweizer Bergwelt, aber auch in der großen weiten Welt. Hallodri Harry Widmer flieht vor dem Bankrott nach Mexiko. Bekannte Elemente aus Capus` anderen Werken begegnen einem auf sympathische Art wieder: die amüsanten Provinzanekdoten; der Europäer in der großen weiten Welt. Dass sich das Buch in einem Rutsch liest und Capus dennoch große Gedanken gelassen ausspricht, ist die Kunst, die er beherrscht. Gott sei Dank keine „ernsthafte, hinreißende Liebesgeschichte“, wie das Schubladenfeuilleton auf dem Einband androht, sondern echte Geschichten von echten Menschen.

Max Goldt: QQ
Der beste Goldt seit Jahren! Sprachlich und inhaltlich voll auf der Höhe, weniger prätentiös als in den späten 90ern und damit wieder ein reineres Lesevergnügen.

Nikos Panajotopoulos: Heiligmacher
Intelligenter Roman zum Thema Erlösungsbedürftigkeit der Menschen am Beispiel eines unfreiwilligen Heiligen im ländlichen Griechenland des frühen 20. Jahrhunderts. Hier herrscht hier kein besonders positives Menschenbild vor, und die Schilderung von Dorfbewohnern und dörflicher Enge sind so, wie man sich das vorstellt, aber Ironie und Humor in der Darstellung verströmen eine erzählerische Leichtigkeit, die das Buch zu einer unterhaltsamen Lektüre statt zum defätistischen Traktat machen.
Gelungen ist auch die verschachtelte Erzählperspektive, die am Ende sehr explizit thematisiert wird und damit den Leser mit der Glaubwürdigkeit des Geschehens konfrontiert, so dass er zu einer bewussteren Auseinandersetzung mit dem Gelesenen gezwungen wird.

Nikos Panajotopoulos: Die Erfindung des Zweifels
Der Erstling desselben Autors. Zwar mag ich keine Bücher über Schriftsteller, aber die Prämisse des Romans – ein Wissenschaftler findet heraus, dass künslerische Begabung genetisch nachweisbar ist und verursacht damit eine Zwei-Klassengesellschaft von anerkannten und „annulierten“ Künstlern – ist schon sehr reizvoll und trägt das Buch problemlos über seine 180 Seiten. Dazu kommt die originelle Strukturierung – eine Lebensbeichte eines todkranken Schriftstellers, herausgegeben von seinem Arzt, dessen Vorwort die Authentizität des Geschriebenen ebenso in Frage stellt wie das Nachwort des Autors, der sich somit selbst zur fiktiven Figur macht. Man merkt schon, Panajotopoulos trifft hier den postmodernen Zeitgeist des Jahres 1999, in dem der Roman verfasst wurde, was mir aber gefällt, denn das ist ja die Zeit, in der ich hängengeblieben bin ;-).
Auch die Hauptfigur, der Schriftsteller Wright, der sich weigert den Test zu machen, um herauszufinden, ob er das Schriftsteller-Gen hat, und sich darüber ruiniert, ist eine interessante Figur, die zudem angenehm zwiespältig daher kommt, so dass man als Leser an angenehmes Maß von Nähe und Distanz zu ihm aufbaut. Die Aussagen über Literaturkritik rennen bei mir offene Türen ein, die literarischen Anspielungen und Versatzstücke passen ins postmoderne Konzept, ohne dabei bemüht oder wichtigtuerisch zu wirken; einzig die Figur der „heiligen Hure“ Patty ist schon etwas arg abgedroschen und die Sci-Fi-Welt der Jahre 2030-65 kommt schon etwas arg zeitgenössich daher, wenn Menschen z.B. ständig Briefe schreiben.
Insgesamt aber ein sehr lohnender und herausfordernder Roman.

David Albahari: Götz und Meyer
Ambitionierter Versuch, eine Facette des Holocaust in literarischer Form zu bearbeiten. Ein Belgrader Lehrer, dessen Familie größtenteils bei der Ermordung der Belgrader Juden ums Leben gekommen ist, sinniert über die beiden Fahrer des „Todes-LKWs“, in dem 5000 serbische Juden vergast wurden. Die Annäherung an die beiden Männer, die er nur aus Berichten kennt, erfolgt aus unterschiedlichesten Perspektiven, wobei zunehmend auch die Opfer ins Blickfeld rücken. Dabei bleiben Täterklischees vom SS-Biedermann nicht aus, werden aber durch den „unzuverlässigen Erzähler“ gebrochen, dessen Psyche unter der (indirekten) persönlichen Betroffenheit gelitten hat und dessen Überlegungen bisweilen ins Wahnhafte abgleiten.
Fragwürdig ist der Versuch des Lehrers in der in der Gegenwart angesiedelten Parallelhandlung seine Schüler mittels „Erlebnispädagogik“ zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu zwingen. Dass die persönliche Obsession, die er dabei zeigt (die Schüler bekommen auf einer Fahrt zu den Tatorten die Namen seiner toten Verwandten zugeteilt), nicht zu weiteren Konsequenzen führt, ist ein Manko des Buches und hätte dem Roman eine zusätzliche Bedeutungsebene (Frage nach dem „richtigen“ Erinnern an den Holocaust) bzw. eine Außensicht auf den Ich-Erzähler (über die Reaktion der Schüler / Eltern /...) geben können.
Insgesamt dennoch ein ambitioniertes Unterfangen, das über weite Strecken auch sprachlich und literarisch überzeugend umgesetzt wird.

Christopher Priest: The Separation (ACHTUNG! SPOILER!)
Sci-Fi-Autor Priest unternimmt den Versuch einer Parallelgeschichtsschreibung im Sinne eines „Was wäre gewesen wenn...“. In diesem Fall geht es um die brisante Thema, was gewesen wäre, wenn Rudolf Hess’ Friedensangebot an England im Jahr 1941 angenommen worden wäre und Großbritannien einen Separatfrieden mit Nazi-Deutschland geschlossen hätte. Ein gewagtes Thema, an dem Priest nicht scheitert, sich aber dennoch überhebt.
Auf der Habenseite hat das Buch eine intelligente Struktur, die uns in die Parallelwelt des Jahres 1999 einführt, nur um dann mit den Erinnerungen eines RAF-Bomberpiloten den uns bekannten Hergang der Geschichte zu schildern. Hieran schließt sich ein weniger geschlossener Teil an, der in Form einer Materialsammlung die Parallelgeschichte entwirft, wobei Priest relativ gekonnt Dokumente, gefake-te Dokumente und Fiktion mischt. Welche Variante nun die (Roman-)Realität ist, verliert der Leser dabei mit der Zeit aus den Augen, und es ist ein Verdienst des Autors, dass diese Frage am Ende irrelevant ist.
Um den abstrakten Stoff zu personalisieren und als Roman funktionieren zu lassen, führt Priest das Zwillingspärchen Joe und Jack (beide haben die Initialen JL) ein, deren Lebenswege sich nach dem gemeinsamen Gewinn einer Bronzemedaille im Rudern bei den Olympischen Spielen 1936 trennen. Während Jack Bomberpilot wird, wird der an sich NS-kritischere und politisch bewusstere Joe zum radikalen Pazifisten, der sich vehement für den Separatfrieden mit dem aggressiven Deutschland einsetzt. Der Gewissenskonflikt, der sich für Joe daraus ergibt, ist der reizvollste Teil in Priests Buch und auch der am durchdachtesten ausgeführte.
Weniger überzeugt haben mich die Elemente, die das Buch wohl verkaufen sollten, wie die Dreiecksgeschichte mit der Halbjüdin Birgit, der Joe zur Flucht aus Berlin verhilft und die Jack natürlich auch lieben muss. Auch die Darstellung der Bomberflüge Jacks ist nicht gerade aufregend, wenn man sich schon etwas mit dem 2. Weltkrieg beschäftigt hat, und wirkt wie das Amalgat aus wohlbekannten Augenzeugenberichten.
Am problematischsten ist aber, dass Priest manche historische Zusammenhänge zu oberflächlich behandelt oder einfach nicht sieht. Das Thema Holocaust in der Alternativhistorie mit der Verwirklichung der „Madagaskar“-Lösung vom Tisch zu wischen ist schon sehr einfach; ebenso wie die Idee, die Deutschen hätten nach Hess’ erfolgreicher Vermittlung Hitler als Reichskanzler abgesetzt (wie genau wird dabei nicht gesagt). Sicherlich hat Priest für dieses Buch intensiv recherchiert und nicht Bernd-Eichinger-mäßig zwei Bücher gelesen und dann „alles verstanden“. Im Gegenteil: Priest will keine einfachen Lösungen anbieten, sondern zum Nachdenken anregen, und auch wenn mich seine Separatfrieden-Variante (die er in weitaus positiverem Licht darstellt als die Erinnerungen des RAF-Bomberpiloten in der tatsächlichen Geschichte) nicht überzeugt, wirft das Buch immerhin interessante Fragen auf und lädt zu einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit Geschichte, Politik und Handlungsspielräumen in Krisenzeiten ein. Dafür lassen sich einige Längen und Ungereimtheiten verschmerzen.
Und das Detail, dass Joseph Goebbels in Priests Alternativgeschichte, nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hat, Dokumentarfilmer wird, ist einer der geistreichsten Historikerwitze aller Zeiten.

Maarten `t Hart: Die Netzflickerin
Die Bildungsbürgerlichkeit des Autors nervt mich nach wie vor. Anspielungen auf klassische Musik, augenzwinkernde Aussagen über große Philosophie – bräuchte es alles nicht für mich, da all die Anspielungen nichts bis wenig zu Geschichte, Handlung oder Aussage des Romans beitragen und man vielmehr oft den Eindruck gewinnt, hier wolle der Autor bluffen, um von der Konventionalität der eigenen Geschichte abzulenken.
Dabei ist Simon Minderhouts Lebensgeschichte, die wir mit einer Auslassung von ca. 50 Jahren nacherleben, an sich wahrlich fesselnd genug. Ein Außenseiter, der als intellektueller Einzelgänger nicht aus der kleinstädtischen Enge ausbricht, sondern als Apotheker auf dem Land arbeitet und dort als schräger Vogel gemieden wird; der nicht nachplappert, was alle sagen und denken und damit aneckt; und auf den dieses Außenseitertum zurückschlägt, als er nach 50 Jahren mehr oder weniger zufällig in die Geschichte eines Verrats verwickelt wird.
Überzeugend ist dabei, wie `t Hart verschiedene Subgenres mischt (Initiationsgeschichte, Liebesgeschichte, Krimi), wobei immer seine Hauptfigur im Mittelpunkt steht. Interessant Simon während der Besatzung Hollands im Dritten Reich als quasi apolitischen Menschen zu erleben, dem persönliches Glück in Form von Liebe zur titelgebenden Netzflickerin bzw. in Form des ästhetischen Genusses klassischer Musik wichtiger ist als die politischen Probleme seiner Umgebung. Simon Minderhout ist auf jeden Fall ein plausibler, faszinierender und dabei keinesfalls schimmernder und ungebrochener Held, dessen Schicksal den Leser immer so sehr fesselt, dass man die etwas langatmigen und selbstverliebten Exkurse des Autors hinnimmt und das Buch mit Genuss bis zum Ende liest.

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