Donnerstag, 27. Dezember 2012

Das Kinojahr 2012 - Teil II - Was es zu meckern gibt



Was gibt es schöneres als einen gepflegten Verriss? Einen schönen Film natürlich. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten, und nachdem ich gestern ausführlich gelobt habe, muss ich heute mal ein wenig meckern. Hier sind sie also, die auf hohem Niveau Gescheiterten, die überschätzten Hypes und die absoluten Gurken.

Beginnen wir mit dem Ärgernis des Jahres: Beasts of the Southern Wild. Diesen gab es bereits, geschäftig angepriesen, auf dem Fantasy Filmfest. Mich schreckte schon der Trailer ab: Kinder, die Lebensweisheiten von sich geben; edle, arme Menschen, die sich gegen das System stemmen; allegorische Fabeltiere, die irgendwas bedeuten sollen. Das sah nach abgeschmacktem Arthouse-Käse für schlichte Gemüter aus und war es dann auch. Das süße Jüngelchen sprach während des ganzen Filmes gefühlt keinen normalen Satz, sondern reihte einen Kalenderspruch an den anderen, die edlen, armen Menschen waren mir durch die Bank unsympathisch und wofür die Auerochsen stehen sollten, habe ich nicht begriffen, was aber meinem stetig steigenden Desinteresse an diesem Film geschuldet sein kann. Schwamm drüber, könnte man sagen, solche Wichtigtuerfilmchen gibt es ja immer wieder. Erschreckend ist jedoch die große Anzahl geschmackssicherer und filmerfahrener Menschen, die dieser Schmuddelversion des Kleinen Prinzen auf den Leim gehen. Dieser Tage trifft der Film mit großem Brimborium und Kritikerlob im deutschen Kino ein. Ich kann nur warnen, wünsche allen Unbelehrbaren aber viel Spaß und freue mich über jeden Verteidiger dieser Schmonzette, der mich eines Besseren belehrt.    


Ähnlich geärgert hat mich das Starvehikel Die eiserne Lady, zu dem ich Folgendes schrieb:

„Das passiert, wenn man Politik und Privates mischt. Meryl Streep gewinnt den Oscar (zurecht) und Maggie Thatcher wird in den Köpfen der Leute zu einer bedauernswerten alten Dame, die den Tod ihres Gatten nicht verwinden kann. Als Hollywood-Melodram über Verlust, Trauer und Altern sicherlich akzeptabel, nur leider ist da noch Thatchers politische Karriere, die der Film trotz seines ausgeprägten Interesses am Privaten ebenfalls nachzeichnen will. Das tut er allenfalls schlaglichtartig, und wenn die Krawalle, die die Politik der "Iron Lady" in den 80er-Jahren ausgelöst haben, als flotte Videoclips mit fetziger Punkmusik unterlegt gezeigt werden, dann zeigt sich, dass der Film eine intellektuelle Luftnummer ist. Powered by emotion - und ohne größeren Erkenntnisgewinn.“

Auch im deutschen Kino gab es im Jahr 2012 Luftnummern. Allen voran Die Unsichtbare, ein eitles Schauspielerdrama, das die Eitelkeit des eigenen Gewerbes kritisiert. Klischeehafte Figuren und nerviges Overacting, allen voran der penetrante Ulrich Noehten als egomaner Regisseur, geben dem Film den Rest. Wie Black Swan ohne Tanzen, Spannung und Natalie Portman. Wer will so was sehen?


So weit zum Arthouse. Doch halt. Da war ja noch We Need To Talk About Kevin, der Film über den bösen Kevin, der am Ende seine Mitschüler – und nicht nur diese – tötet. Ein Film, der mich ratlos zurückließ und, anders als vom sympathischen Kinochef des Hafen 2 angekündigt, so gar nicht berührte. Wenn die Macher des Films mahnen und warnen wollten, dann sind sie gescheitert. Kevin ist zu dämonisch, zu offensichtlich fies und schlecht, er ist nicht der unscheinbare Typ, der durchdreht, sondern das böse Kind, das es in der Filmgeschichte nicht zum ersten Mal gibt. Wenn die Macher des Films das Psychogramm einer von Schuldgefühlen geplagten Mutter zeichnen wollten, waren sie schon erfolgreicher, denn Tilda Swinton ist fesselnd und überzeugend in dieser Rolle. Doch dem Charakterdrama steht erneut der überzeichnete Bösewicht im Weg, der einen ähnlich unterhält wie Iago in Shakespeares Othello oder Earl Pastko als selbsternannter Satan in Bruce McDonalds Highway 61. Es ist daher an sich nur folgerichtig, dass der Film in Deutschland zunächst auf dem Fantasy Filmfest lief. Hier passt er gut hin, denn er ist unterhaltsam und spannend – nur dass das bei der gewählten Thematik ein zweifelhaftes Kompliment ist.


Ein lupenreiner Genrefilm ist hingegen Headhunters, auf den ich mich nach Trailer und Ankündigung zunächst gefreut hatte:

„Der neue Stieg Larsson ist da. Ja, iss klar. Genau wie John Alvijde Lindqvist Schwedenkrimis schreibt. Aber man muss das Zeug ja irgendwie vermarkten.

Headhunters hat jedenfalls nichts von den düsteren, komplexen, letztlich aber doch geschlossenen Plots Stieg Larssons. Der Film beginnt wie eine Mischung aus American Psycho und elegantem Kunsträuber-Krimi, entwickelt sich aber bald zu einer völlig überzogenen Hetzjagd, in der ein böser Gangster einen an sich gar nicht so üblen Gangster jagt. Könnte gut sein, hätte man das nicht alljährlich in einem französischen Beitrag zum Fantasy Filmfest schon mal besser gesehen. Und wäre da nicht der seltsame Humor, der die Hauptfigur komplett in Scheiße tauchen lässt oder zwei dicke Zwillinge als Streifenpolizisten zeigt. Oder die Splattereffekte, die schon mal ein vom Aufprall auf einen Felsbrocken zerschmettertes Gesicht in Nahaufnahme zeigen. Würg. Man wird den Eindruck nicht los, als hätte man es bei diesem Film einfach mit einem Produkt zu tun, bei dem versucht wurde, es allen möglichen Zielgruppen rechtzumachen und das dabei noch wild und hip sein will. Ich kann nur abwinken.“

Aber es geht ja noch schlimmer. Der absolute Tiefpunkt des Jahres kam aus Deutschland und hieß Das Kind:

"Wo soll ich anfangen? Vielleicht mit dem Fazit: „Das Kind“ ist mit Abstand der schlechteste Film, den ich in diesem Jahr im Kino gesehen habe. Nein, ich habe nichts gegen B-Movies, im Gegenteil. Ja, ich kann auch noch der 100. Psychothriller-Variante etwas abgewinnen, wenn Atmosphäre, Schauspieler und Handlungsfluss stimmen. In „Das Kind“ stimmt aber leider gar nichts.

Man sollte natürlich schon misstrauisch werden, wenn Deutsche mal wieder auf Hollywood machen und einem abgehalfterten US-Schauspieler aus der dritten Reihe wie Eric Roberts eine Hauptrolle geben. Aber hatte ich nicht den Roman „Das Kind“ von Sebastian Fitzek in diversen Buchhandlungen und auf verschiedenen Bestsellerlisten gesehen? Können sich all diese Leser irren? Ja, können sie. Die Geschichte, die Fitzek erzählt, ist ein modisches Sammelsurium aus altbekannten Versatzstücken und abgedroschenen Psychothriller-Klischees, ein reines Recycling-Unternehmen ohne jegliche gedankliche Eigenleistung. Der Film ist die kongeniale Umsetzung. Da wird ein Schauplatzrecycling von „Sieben“ bis „Saw“ betrieben, nur eben alles eine Spur billiger. Atmosphäre gleich null, Spannung stellt sich an keiner Stelle ein. Dazu kommt ein Drehbuch, das eine Beleidigung für jeden Zuschauer ist. Klaffende Logiklöcher, dass einem die Spucke wegbleibt; Anschlussfehler noch und noch; ungelenkes Erzählen wie in einem schlechten Derrick; überflüssige Rückblenden für die ganz Doofen; und schließlich Dialoge, die einem körperliche Schmerzen bereiten, so klischeehaft und, ja man kann es nicht anders sagen, dumm sind sie. Klingt nach exzellentem Trash? Leider nein. Hier gibt es kein ironisches Augenzwinkern, das ist ernst gemeint. Selbst die Besetzung von Dieter Hallervorden als Kinderschänder. Dass Dieter unsx dennoch einmal mehr den Didi macht, war zu befürchten, aber er ist nur das Sahnehäubchen in einer Riege hölzerner und blasser Knallchargen, die den Film endgültig an die Wand fahren. Eric Roberts ist in seiner Rolle schlichtweg überfordert und unglaubwürdig, die Dame an seiner Seite habe ich schon wieder vergessen. Ben Becker spielt auf Autopilot, Dieter Landuris ebenfalls. Daniela Ziegler hingegen gibt alles, nur dass das nicht besonders viel ist und man ahnt, warum sie ansonsten eher in Inga-Lindström-Filmen am Sonntagabend im ZDF auftaucht.

Nein, es tut mir leid, es gibt an diesem Film nichts Positives. Nichts. Außer vielleicht, dass er einem über knapp zwei Stunden vor Augen führt, was der Unterschied zwischen einem Trashfilm und Müll ist."

Weder Trash noch Müll sind die Filme, auf die ich abschließend einen kleinen Blick werfen will. Es sind die Filme, von denen ich mir viel erwartet hatte, und die mich dann letztlich enttäuscht haben.


Paranorman etwa, der als liebevolle und ideenreiche Hommage an den klassischen Horrorfilm beginnt, sich dann aber recht bald in der üblichen kindertauglichen Animationsfilmgeschichte von wahrer Freundschaft, Toleranz und Blablah verliert und dem genreaffinen Zuschauer kaum noch etwas zu bieten hat.

Oder Skyfall, der neue James Bond, der es auch in die Bestenliste hätte schaffen können, wenn er einfach auf seinen Showdown in Schottland verzichtet hätte, der nicht nur inszenatorisch lahm und wenig spannend ist, sondern auch all die zuvor gestellten Fragen nach dem Altern des Agenten und dem Sinn von Geheimdiensten in einer unübersichtlichen, globalisierten Welt über den Haufen wirft.

Was mir die wunderbaren Bilder des Naturfilms Das grüne Wunder verdorben hat, schilderte ich ja bereits hier, und so bleibt mir zuletzt ein Kommentar zu Take Shelter, dem Film, an dem ich gescheitert bin:

„Ich weiß nicht so recht, was ich von Jeff Nichols' hochgelobtem Paranoia-Film halten soll. Wunderbar funktioniert der Film als Psychogramm eines Mannes mit apokalyptischen Visionen. Michael Shannon ist in dieser Rolle beeindruckend und stets glaubhaft. Schwerer einzuordnen sind für mich die symbolischen und biblischen Verweise, durch die der Film in verschiedenen Kritiken als Kommentar zum Isolationismus der USA oder zu einer bevorstehenden Klimakatastrophe gedeutet wurde. Wer damit anfängt, wird gerade im letzten Drittel in Interpretationsnöte kommt. Wer nicht philosophisch deutelt, dem könnten die zwei Stunden Laufzeit irgendwann etwas lang werden. Denn zwar spielt der Film mit den Genreerwartungen des Psychothrillers und des Katastrophenfilms, doch nur um sie fast immer zu unterlaufen. Klare Warnung also für alle "Twister"- und "Psycho"-Freunde, vorsichtige Empfehlung für fortgeschrittene Kinogänger, die Lust auf Außergewöhnliches haben.“

Mittwoch, 26. Dezember 2012

Das Kinojahr 2012 - Teil I - Was bleibt



Drive ist der Film des Jahres. Darüber sind sich Ulrich Kriest im Filmdienst, die Flimmerfreunde (http://www.flimmerfreunde.de/?p=965), die Narrentalker (http://dvdnarr.com/podcast/2012/02/18/narrentalk-podcast-no-64/) , und die Macher des Offenbacher Hafenkinos einig. Ich teile die Begeisterung voll und ganz und zitiere, was ich schrieb, nachdem ich den Film zum zweiten Mal gesehen hatte:

„Ein ganz großartiger Film, wenn man in den 80ern Miami Vice mochte. Kühle, stilisierte Ästhetik; ein großartiger Elektro-Soundtrack; eine Geschichte, die nicht gut enden kann. Actionfans mag es zu wenig krachen und Arthousefreunde dürften sich an ein paar zünftigen Gewaltausbrüchen in der zweiten Hälfte stören. Wer aber Genrefilme mit Tiefgang schätzt und Spaß daran hat, Referenzen zu entziffern, kann hier kaum etwas falsch machen.“

Ein Konsensfilm für Geschmackssichere. Und falls noch Zweifel bestehen:


Der zweite Konsensfilm, um den ich nicht herumkomme, ist natürlich der allseits beliebte Ziemlich beste Freunde. Zwar melden sich inzwischen die Nörgler zu Wort, aber das sind m. E. nur Fundamentaloppositionelle, die wahrgenommen werden wollen, oder Leute mit Stock im Arsch wie Antje Wessels von buy-a-movie.de. Denn kaum ein Film hat mir im Jahr 2012 solchen Spaß gemacht wie dieser.  


Fraktus natürlich noch. Die Fake-Doku über die deutschen Elektropioniere ist eine wunderbare Spielwiese für die drei Herren vom Studio Braun. Insofern ein deutsches „Spinal Tap“ mit gepflegtem Wahnsinn als Bonus, etwa wenn Dönerspieße zur Waffe werden, ein unbedarfter Kameramann versucht, Instrumente aus einer Garage zu stehlen oder Bernd Wand Verdacht auf Kongozunge bei sich selbst diagnostiziert: 




Überhaupt war der deutsche Film 2012 wieder einmal wesentlich besser als sein Ruf.

Erster Höhepunkt: Christian Petzolds neuer Film Barbara, zu dem ich festhielt:  

„Christian Petzolds Filme wirken immer etwas spröde. Es wird meist wenig gesprochen, lange, ruhige Einstellungen dominieren und die Filmmusik beschränkt sich auf einzelne, handlungsrelevante Stücke. Sein neuer Film "Barbara" macht da keine Ausnahme, doch tragen all die genannten Elemente hervorragend dazu bei, die beklemmende Atmosphäre des Misstrauens darzustellen, das die Titelfigur Barbara im Jahr 1980 in der DDR nach ihrer Strafversetzung in die Provinz empfindet. Petzolds Film zeigt, wie ein Staat durch seine Bespitzelungspraktik Einfluss auf das Privatleben seiner Bürger nimmt und normale menschliche Bindungen erschwert oder gar verhindert. Er tut dies differenziert und fair und hebt sich damit wohltuend vom inzwischen etablierten DDR-Bild aus Club-Kola, Platte und Stasi-Knast ab. Mit Nina Hoss hat er zudem eine exzellente Hauptdarstellerin gefunden, die auch ohne Worte ganz viel ausdrücken kann.“

Und Monate später sehe ich Nina Hoss immer noch auf dem Fahrrad gegen den Wind auf den Dünen ankämpfen. Nachhaltige Bilder, intensives Erzählen – wobei ich mich davor hüte, Christian Petzolds Filme zu empfehlen, denn damit bin ich bisher noch nie erfolgreich gewesen. 


Ebenfalls nicht empfehlen werde ich vor diesem Hintergrund Die Wand. Martina Gedeck findet sich plötzlich allein und isoliert auf einer Berghütte wieder, die von einer unsichtbaren Mauer umgeben zu sein scheint. Beklemmende Bilder, Anklänge ans Horrorgenre und die Frühromantik, eine Studie über Einsamkeit und Isolation, ein spannender Film über das Überleben, garniert mit einer fantastischen schauspielerischen Leitung und atemberaubenden Aufnahmen von Bergpanoramen. Insgesamt dann auch noch erfreulich uneindeutig und doch dramaturgisch stimmig und straff erzählt; ja, jetzt, wo ich das so schreibe, wackelt fast der Spitzenplatz von Drive, so gut fand ich diesen Film.


Eindeutiger ging es in Andreas Dresens Halt auf freier Strecke zu, einem ehrlichen, erschütternden und nie melodramatischen Film über das Sterben. Der klassische Kinotipp der katholischen Filmkritik, und das meine ich uneingeschränkt positiv.


Und schließlich bescherte mir der deutsche Film auf den letzten Metern des Jahres noch Oh Boy, diesen liebenswerten, kleinen Berliner Slackerfilm mit Tom Schilling, der so unaufdringlich daherkommt und eine grandiose Sketchsituation an die nächste reiht. Kaffeekauf, Idiotentest und Besuch vom neuen Nachbarn – der Wahnsinn ist ein alltäglicher; stets aus dem Leben gegriffen und dann hübsch überspitzt, oft auf dem schmalen Grat zwischen Beklemmung und Amüsement und dabei immer trittsicher. Der Film mit dem höchsten Sympathiefaktor des Jahres, bei dem man sich auch ohne Bedenken den Trailer schauen kann, ohne dann schon alle Gags zu kennen.



Außerdem möchte ich noch eine Lanze für einen deutschen Genrefilm brechen. Du hast es versprochen ist keinesfalls weltbewegend oder bahnbrechend, aber ein kleiner, gelungener Mysterythriller mit guter Geschichte und stimmungsvollen Bildern, bei dem sich das ein oder andere Mal sogar eine wohlige Gänsehaut einstellt. Warum ich den Film in solch illustrer Gesellschaft erwähne? Weil ich Regisseurin Alex Schmidt dafür dankbar bin, dass sie es geschafft hat, einen ordentlichen deutschen Genrefilm zu drehen.  


Die echten Höhepunkte des Genrekinos gab es allerdings einmal mehr auf dem Fantasy Filmfest.

Ole Bornedal lieferte mit The Possession perfekten Exorzismushorror, der schmutzige, kleine 13 Eerie bot angenehm unschönen Zombiesplatter mit einigen Verneigungen vor Lucio Fulci und Konsorten, und der später katastrophal vermarktete The Hidden Face / Das verborgene Gesicht war sicherlich der durchdachteste Mysterythriller des Jahres. Mit A Gang Story gab es ein wunderbares französisches Gangsterepos mit dem beeindruckend wandelbaren Gérard Lanvin und Ace Attorney räumte gleich mit zwei Vorurteilen auf, nämlich a) dass man aus einem Videospiel keinen guten Film machen kann und b) asiatischer Humor für Westeuropäer unverständlich ist. Wenn jeder Freispruch mit einem Konfettiregen gefeiert wird, dann ist das einfach verdammt witzig.

Absolute Höhepunkte des filmischen Wanderzirkus waren dieses Jahr jedoch God Bless America, ein Film, der in erster Linie ein schwarzhumoriges, gesellschaftskritisches Traktat darstellt, das wohl vielen aus der Seele sprach, und Detention, ein intelligenter, schneller, greller, mitunter kreischiger und streckenweise extrem witziger Film, dessen Ideenreichtum erfreulich selten ermüdet und der seine nicht minder kritische Einstellung bei aller visueller Aufdringlichkeit erstaunlich dezent und geschickt verpackt. Übertroffen wurden diese beiden lediglich noch von Sightseers, dem neuen Film des Wunderknaben Ben Wheatley, der mich letztes Jahr mit dem Genrebastard Kill List begeisterte. Sightseers in ein Roadtrip durch das ländliche England, das wie eine nerdige Liebeskomödie beginnt und sich zu einer Reise mit Serienmördern entwickelt. Komik, zwischenmenschliche Abgründe und Gewalt so gekonnt auszubalancieren gelingt meiner Meinung nach nur in britischen Filmen. Anders als in God Bless America, in dem die Feindbilder klarer sind und die Gewalt stilisierter ist, führt Sightseers seine Zuschauer mehr als einmal auf das dünne Eis der Komplizenschaft. Hat man sich eben noch darüber gefreut, dass der Öko-Nazi vom National Trust von unserem Antihelden ordentlich Gegenwind bekommt, ist man schon im nächsten Moment beschämt, wenn der Unsympath äußerst gewalttätig um‘s Leben gebracht wird. Hier wird der Zuschauer herausgefordert, hier wird Kino interessant.



Objektiv weit weniger gelungen, aber subjektiv ein reines Vergnügen waren für mich Sinister und Chernobyl Diaries. Sinister ist eine perfekte Geisterbahnfahrt, Dämonengrusel in Reinform, der keinen Effekt auslässt und damit perfekt unterhält. Ich sah den Film an einem Samstagabend inmitten kreischender irischer Teenager, was den erwünschten Effekt noch verstärkte. Perfekt für Fans. 
Zu Chernobyl Diaries zitiere ich mich noch einmal selbst:

„Ein Film aus der Abteilung "guilty pleasures". Natürlich ist es geschmacklos einen Horrorfilm, der reines Popcorn-Kino ist, in Tschernobyl anzusiedeln. Klar sind die Charaktere - selbst für Horrorfilmstandards - extrem eindimensional. Zweifelsohne ist Handlungslogik nicht gerade die Stärke des Films. Aber mal ehrlich: spielt das alles eine Rolle? "Chernobyl Diaries" punktet mit Spannung und Atmosphäre. Gedreht wurde, wie man dem Abspann entnehmen kann, in Serbien und Ungarn, und insofern ziehe ich meinen Hut vor Location-Scouts und den Ausstattern, denn der Film wirkt nie, als sei man in einem Studio, sondern zieht einen gerade durch das authentisch anmutende Setting in seinen Bann. Verfallende Plattenbauten sorgen schon lange vor Beginn des eigentlichen Horrors für Grusel. Überhaupt setzt der Film eher auf klassische Erschreckmomente als auf blutige Details, was ich in Zeiten, in denen selbst Durchschnittsfilmchen wie „Turistas“ eine minutenlange Amputation zeigen müssen, als sehr wohltuend empfinde. Perfektes Popcornkino also, die nur durch das Dauergeplapper, Handygechecke und Rumlatschen einiger aufgekratzter Jugendlicher gestört wurde. Doch spricht die erkennbare Nervosität dieser jungen Menschen für die Qualität des Films. Insofern eine klare Empfehlung für Genrefreunde.“

Nach soviel Schrecken muss ich jetzt aber endlich einmal einen familienfreundlichen Film lobend erwähnen:

„Ach, was für ein Spaß! Piraten – ein Haufen merkwürdiger Typen ist ein Animationsfilm der britischen Aardman Studios, jener Produktionsfirma, die uns Wallace & Gromit beschert hat. Das ist schon mal eine Ästhetik, mit der ich mehr anfangen kann, als mit der quietschbunten Computerkünstlichkeit der Marktführer im Animationsbereich. Dazu kommt der britische Humor, der sich auch in „Piraten“ finden lässt, zusätzlich zu einer kaum überblickbaren Fülle von Anspielungen auf britische Geschichte, Literatur und Lebensart. Die Story ist hübsch schräg und mischt fiktive Piraten mit historischen Personen wie Charles Darwin und Königin Viktoria. Letztere ist die eigentliche Schurkin des Films und in allerlei Action verwickelt, was vielleicht den kreativen Wahnsinn der Handlung andeutet. Natürlich ist auch dieser Animationsfilm kindgerecht. Die Botschaft, dass Ehrlichkeit am längsten währt und nur wahre Freundschaft zählt, findet sich auch hier. Und auch die unvermeidliche übertriebene Hektik und Action zeitgenössischer Animationsfilme muss man phasenweise über sich ergehen lassen. Aber mitgeschleifte Eltern, die andere Ansprüche an Kinofilme stellen als ihre Sprösslinge, werden hier besser bedient als etwa in flauen und dennoch wohl recht erfolgreichen Filmen wie „Kung Fu Panda 2“ oder dem Shrek-Spin-Off „Puss in Boots“. Denn bei allem Tempo gibt es in „Piraten“ eine große Liebe zum Detail bis ins einzelne Bild. Selten habe ich mir so oft gewünscht, den Film einmal kurz anhalten zu können, um alle versteckten Scherze im Hintergrund aufzusaugen. Dankenswerterweise tauchen viele davon im Abspann noch einmal auf, so dass man einen zweiten Blick auf sie werfen kann. Der perfekte Ferienfilm für einen verregneten Sommernachmittag.“

Ähnlich familienfreundlich ist in gewisser Weise Tim Burtons neuster Geniestreich, Dark Shadows, ein Film, der weder von der Kritik noch vom Publikum sonderlich beachtet oder geschätzt wurde. Ich hingegen vergab leichtfertig 10 Punkte:

„Ich kann nicht sagen, ob Dark Shadows wirklich ein guter Film ist. Tim Burton; Johnny Depp; Michelle Pfeiffer; ein Vampir aus dem 18. Jahrhhundert, den es in die 1970er verschlägt – da  setzt bei mir die Objektivität aus. Ich kann nur sagen, dass ich mich über die gesamte Laufzeit des Films großartig unterhalten habe. Das gelungene Set- und Productiondesign, Johnny Depps exzentrisches, aber nie überzogenes Spiel, die Anspielungen auf alle möglichen Gruselfilmklischees, die hervorragend ausgewählten 70er-Songs, das ausgewogene Maß an Grusel und Komödie. Fantastisch. Gerade letztgenannte Mischung wird dem Film aber an der Kinokasse vermutlich das Genick brechen, denn Burton scheint die (mir unbekannte) Fernsehserie, die die Vorlage für seinen Film darstellt, so sehr zu schätzen, dass er sie nie der Lächerlichkeit preisgibt und damit auch nie ihr – oft unfreiwillig – komisches Potential ausschöpft. Seine Fans macht er auf diese Weise allerdings glücklich: „Noch mal bitte“,  sagt eine junge Dame in der Reihe vor mir mit seligem Lächeln im Gesicht zu ihrer Begleiterin, nachdem der Abspann zu Ende ist. Das bringt es auf den Punkt.“

Und einen weiteren Film, der ansonsten eher verhalten aufgenommen wurde (zu schwerfällig, zu düster, zu pathetisch, zu selbstverliebt), möchte ich an dieser Stelle noch in höchsten Tönen loben: The Dark Knight Rises. Für mich hat der Abschluss von Christopher Nolans Batman-Trilogie von vorne bis hinten Sinn ergeben. Die Mischung aus Handlung und Action hat gestimmt, es gab massig Schauspieler, die ich gerne sehe, der Film war spannend, düster (= positiv) und führte alle losen Enden der anderen Teile zusammen. Kann man mehr wollen? Ich nicht!


Abschließend bleibt mir der Hinweis auf drei herausragende Dokumentarfilme, Marley, The Substance – Albert Hofmanns LSD und More than Honey, und auf die exzellenten Projektionen der Klassiker Rebel Without A Cause, The Saga of Anatahan und Strangers On A Train im Kino des Frankfurter Filmmuseums, die dieses exquisite und abwechslungsreiche Kinojahr rückblickend abrunden.



Weitere gute Filme (in chronologischer Reihenfolge):

The Ides Of March

Sherlock Holmes – Spiel im Schatten

J. Edgar

Coriolanus

A Dangerous Method

Dame, König, As, Spion

Superclassico

The Artist

Nathalie küsst

Moonrise Kingdom

Der Gott des Gemetzels

Killer Joe (Fantasy Filmfest)

Eden (Fantasy Filmfest)

Cabin in the Woods

Liebe (ein an sich ganz vorzüglicher Film, dem aber leider das meiner Meinung nach unnötig zugespitzte Ende sehr viel von seiner Wirkung nimmt

Killing Them Softly



DVD-Entdeckungen:

Out of the Blue – 22 Stunden Angst (Spielfilmverarbeitung eines Amoklaufs in Neuseeland aus dem Fantasy-Filmfest-Umfeld; spannend, beklemmend und intensiv)

Hunger (erste Kollaboration von Michael Fassbender und Steve McQueen, die uns dieses Jahr Shame bescherten. Es geht um einen Hungerstreik politischer Gefangener; kein Film für Zwischendurch, sondern kompromissloses Kino, inhaltlich und visuell herausfordernd)

Julia’s Eyes (stimmungsvoller spanischer Mystery-Horror, der erst gegen Ende etwas den Faden verliert, zuvor aber perfekt unterhält)
 
Hilfe, Ferien! (sympathische Familienunterhaltung für Frankreichfans, von den Machern von "Ziemlich beste Freunde").

Dienstag, 25. Dezember 2012

Königs Lieblinge - Track By Track



01 Tristesse Contemporaine: I Didn’t Know
Ein nächtlicher Spaziergang auf einer regennassen Straße. Kühl und monoton, aber mit einem Beat, der einen gefangen nimmt. Tristesse Contemporaine zitieren die guten 80er, mischen sie mit triphop-artigem Gesang und unaufdringlichen, zeitgemäßen Effekten. Der Song begleitet mich seit einem Dreivierteljahr und hat nichts von seiner hypnotischen Faszination eingebüßt.  

02 Wolke: Für immer
Oliver Minck gibt den intellektuellen Schlagersänger, bei dem man nie weiß, ob er das gerade ernst meint. Ein Balanceakt zwischen Tiefsinn und Trash, der für mich hervorragend funktioniert.

03 Die Türen: Don’t Google Yourself
Nach fünf Jahren Pause die durchdachte Wiederkehr der textlich besten deutschsprachigen Band. Eine Platte mit 60-seitigem Begleitbuch und Cover zum selbst Gestalten, Popdiskurs zum Hören und Mitmachen – ein Spagat, der sich schwierig gestaltet, da Spex-Leser ungerne mitsingen und Pop ja eigentlich tot ist. Wer frei von solchem gedanklichen Ballast ist, kann ja mal über Textzeilen wie „Man kann mich finden, also bin ich. Das muss in diesem Leben reichen“ nachdenken. Viel Spaß dabei!
 
04 Francis: Traktor
Okay, schalten wir mal einen Gang runter. Stellvertretend für all die jungen, schönen, engagierten, talentierten, unperfekten und liebenswerten Musiker, die ich in diesem Jahr vor allem im wunderbaren Offenbacher Hafen 2 sehen durfte, hier die Skandinavier Francis mit einem kleinen, sympathischen Ohrwurm. Unprätentiös und nachhaltig.
Zum Weiterhören:
 

05 Bloodgroup: Overload
Auch jung, schön, engagiert und talentiert, aber schon eine Spur professioneller. Bloodgroup mischen saftige Elektronikbeats mit cleveren Popsongs und erinnern auf angenehme Weise an die frühen Gus Gus. "Overload“ ist eine Hitsingle – zumindest für mich.

06 We Have Band: Where Are Your People?
Hype, Hype, Hype? Zurecht, zurecht, zurecht! Anfangs noch als Überbrückung der Wartezeit bis zum nächsten Metronomy-Album gesehen, entfalteten We Have Band für mich nach mehrfachem Hören ihre volle Qualität. Stilistisch breit aufgestellt, catchy bis komplex und live kompetente Rampensäue. "Where Are Your People?“ ist der perfekte Einstieg, eine weitere Hitsingle für den geneigten Hörer.

07 Breton: Edward the Confessor
Etwas brachialer geht es bei Breton zu. Muss das so übersteuert klingen? Es muss. Adoleszente Energie, die dringend raus muss und sich in – jetzt kommt’s – fetten Beats (!) ihren Weg bahnt. Atmosphärisch wie The Streets vor Mike Skinners Spielsucht. Und die tollen Videos zu vielen der Songs sollte man auch erwähnen.
Dieses hier etwa:

08 Miike Snow: Paddling Out
Ach, wie habe ich auf Album Nummer zwei gewartet. Ach, wie überproduziert und langweilig ist es letztlich geworden. "Paddling Out"  jedoch ist einfach ein Partyhit, den ich nicht schlecht finden kann. Dank an Herrn DJ Psycho Jones, der das Liedchen auf der After-Show-Party des Phonopop spielte und mir die Ohren öffnete.

09 Diagrams: Ghost Lit
Wesentlich geschmackssicherer sind jedoch Diagrams. Die markante Stimme des Ex-Tunng-Sängers Sam Genders trägt die elektronisch angehauchte Folkmusik, "Ghost Lit“ bleibt auf angenehme Weise in Ohr, Hirn und Herz hängen, und das Album "Black Light“ verfügt über eines der schönsten LP-Cover des Jahres.

10 The Miserable Rich: Ringing the Changes
Traditioneller, aber nicht weniger einprägsam sind The Miserable Rich. Handgemacht, melancholisch und intensiv; moderne Bänkelsänger, die zur Zugabe auch schon mal von der Bühne steigen und ohne Hilfsmittel inmitten des Publikums spielen.
Das kann dann so aussehen:

11 Rue Royale: Halfway Blind
Noch mehr einfach schöne Musik. Eine Platte aus einem Guss. Hat live zwar leider nicht so gezündet, fand aber dennoch sehr häufig den Weg auf den Plattenteller und die Winamp-Playlist.

12 Les Yeux Sans Visage: Oblivion
Eine weitere Hafen-2-Entdeckung. Ein Schweizer Trio, das bestimmt schon mal den ein oder anderen Joy-Division-Song gehört hat. Musik als Zeitreise.

13 Lykke Li: I Follow Rivers (The Magician Mix)
Wenn man sich 2012 einem Charthit nicht entziehen konnte, dann diesem. Im "Magcian Mix" noch eine Spur poppiger, billiger und besser.

14 Pablo Decoder: Stockholm
Wo wir gerade bei Pop sind. Und außerdem very Berlin!

15 Ecke Schönhauser: Auflösen
Aah, wunderbar. Ich liebe die nervige, quengelnde Stimme dieses Herren, der sonst bei Herpes singt und hier mit neuer Formation und Konzeptalbum eine Trennung verarbeitet. Musikalisch entsprechend ausufernder und weniger punkig, textlich manchmal hart an der Schmerzgrenze, und so faszinierend, dass es nicht beim einmaligen Hören bleibt.

16 Jacques Palminger & The Kings of Dubrock: Russkerzendisco
Der umtriebige Herr Palminger konnte mich 2012 dann doch am nachhaltigsten mit den Kings of Dubrock beeindrucken. Geschichtenerzähler und Komiker im Geiste Heino Jägers trifft Elektroniktüftler (Viktor Marek) und charismatische Allzweckfrontfrau (Rica Blunck) – welch glückliche Fügung. Da fiel die Auswahl schwer und letztlich auf „Russkerzendisco“, da dieses Stück die Zeile „Der Gang ist nur verstopft, weil es da gerade nicht weitergeht“ enthält.

17 Stabil Elite: Gold
Düsseldorf! Kraftwerk!! Jetztschonkult!!! Na ja, lassen wir die Kirche mal im Dorf. Erwartungen runterschrauben und Spaß haben an gelungenen Songs wie diesem.

18 Locas in Love: Manifest
Ein Manifest, das ich hiermit unterzeichne.

19 Die höchste Eisenbahn: Jan ist unzufrieden
Unverkennbar Francesco Wilking. Dieser ist mir 2012 einige Male begegnet: als Ansager auf dem Bootboohook, als Solosänger auf der Tapete-Labelnacht im Frankfurter Bett und eben als Die höchste Eisenbahn in Kombination mit Moritz Krämer und zwei anderen Sympathieträgern aus dem Tapete-Records-Umfeld. Kaum einer schüttelt größere Erkenntnisse so beiläufig aus dem Ärmel, vielleicht auch deshalb ein ewiger Geheimtipp.  

20 Moritz Krämer: Der kleine Spatz
Noch so ein Geschichtenerzähler, der mir im Lauf des Jahres immer mehr ans Herz gewachsen ist. Nicht immer sagt er mir etwas, aber „90 Minuten“ und „Der kleine Spatz“ sind zwei ganz große, über das Jahr 2012 hinaus bleibende Songs.